Grotto Retreat
#architektur

Wo Geister vertrieben werden

Die Landflucht nimmt in China immer dramatischere Ausmaße an. Dem Phänomen versucht man nun auch architektonisch zu begegnen. Das Grotto Retreat ist zumindest ein preisgekrönter Versuch, um einer ehemaligen Geisterstadt neues Leben einzuhauchen.

Das Dilemma ist leicht erklärt. Nachdem Chinas Augenmerk fast ausschließlich auf Boomtowns wie Shanghai oder Peking liegt, gibt es in diesen Städten besonders viel Arbeit. Das führt dazu, dass viele Menschen aus ländlichen Regionen ihr Glück eben genau dort suchen. Und vom Land in die Stadt ziehen. Daraus ergeben sich zwei Probleme: Einerseits ist dann auch wieder nicht genug Arbeit für alle da. Und andererseits bleiben teilweise komplett verlassene Ortschaften zurück.

Lost Places als traurige Attraktion

Basierend auf dem (nicht vorhandenen) Stromverbrauch gibt es über 60 Millionen völlig ungenutzte Wohnungen in China. Experten schätzen, dass insgesamt 50 Städte komplett verlassen sind. Diese werden langsam, aber sicher von der Natur zurückerobert. Berühmte Fotodokumentationen solcher „Lost Places“ sind seit einigen Jahren in den sozialen Netzwerken im Umlauf. Doch in Wahrheit sind sie nicht bloß spektakuläre Fotomotive. Vielmehr sind sie das „Symptom für die wirtschaftlichen Probleme und die Immobilienblase des Landes“, so Fachleute.

Grotto Retreat

Grotto Retreat

Ein Problem, dem man zumindest in einigen Regionen des 1,4-Milliarden-Menschen-Landes nun mit intelligenter Architektur begegnen möchte. So wurde ein eigener Architektur-Wettbewerb ins Leben gerufen, um das Dorf Xiyaotou in der Provinz Shaanxi komplett neu zu denken. Und so wieder Menschen anzulocken.

Altes Dorf, neue Ideen

Gewonnen hat dabei der Entwurf Grotto Retreat von Studio Avoid. Soeben wurden die Bauarbeiten dieses ungewöhnlichen Ortes abgeschlossen. Ergebnis: Das Dorf wurde laut Architekten in eine Ansiedlung kommunaler Bauernhöfe umgewandelt. Diese sollen den Dorfbewohnern in Zukunft durch das Angebot von Unterkünften und die Möglichkeit, lokale Lebensmittel zu produzieren, ein Einkommen verschaffen.

Grotto Retreat

„Das Designkonzept geht von dem radikalen Unterschied zwischen den ländlichen und städtischen zwischenmenschlichen Netzwerken aus“, so das in Macau ansässige Studio Avoid.

Höhlen wurden neu interpretiert

Was das konkret heißt? Die ursprünglichen Höhlenwohnungen des Ortes wurden als vertikale, überirdische Grotten neu interpretiert. Um diese miteinander zu verbinden, integrierte man Brücken aus Kiefernholz. Sie sollen Begegnungen forcieren. Die Architekten dazu: „Es sind Brücken der Konnektivität. Sie helfen, eine Gemeinschaft zu realisieren. Hier soll Öffentliches und Privates nebeneinander bestehen.“

Grotto Retreat

Grotto Retreat

Die Grotten selbst werden die Bewohner dazu veranlassen, sich nach oben, also Richtung Zukunft zu orientieren, heißt es. Deshalb ragen die einstigen Höhlenwohnungen nun sieben Meter in die Höhe. Die Dächer sind allesamt beinahe zur Gänze mit Oberlichten versehen. Diese sollen den ländlichen Arbeitsrhythmus den ganzen Tag über spürbar machen. „Das Erleben des Tages von der Morgendämmerung bis zur Abenddämmerung würde die Sensibilität für den Lauf der Sonne und das Leben per se schärfen“, sagen die Planer.

Grotto Retreat

Die doppelschichtigen Ziegelwände der Wohneinheiten wiederum sollen die Wärme des Sonnenlichts tagsüber speichern, um sie in der Nacht wieder abzugeben. Die Form der Objekte und die Position der Fenster würde zudem einen Kamineffekt erzeugen, der im Sommer zur Wärmeabgabe beiträgt.

Grotto Retreat als Testballon

Inwiefern dieses Konzept auch angenommen wird, lässt sich zwar noch nicht sagen. Allerdings würde es sich jederzeit um weitere Grotten erweitern lassen, so die Architekten.

Im Gegensatz zu manch anderen Bauvorhaben Chinas ist hier zumindest eine Sinnhaftigkeit zu erkennen. Als wohl mahnendstes Beispiel gilt die Stadt Ordos im Norden Chinas. Hier hatte man Anfang der 2000er-Jahre riesige Kohlevorkommen entdeckt. Sogleich wurde eine künstliche Stadt für 300.000 Menschen errichtet. Heute leben hier 5.000. Ordos gilt als größte Geisterstadt der Welt.

Text: Johannes Stühlinger
Bilder: Guo Zhe

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