Monumentales Echo industrieller Vergangenheit
Der neu entstehende Papuli Tower von Ricardo Bofill in Tirana ist weit mehr als ein Hochhaus. Er ist ein 190 Meter hohes Denkmal aus Materie gesponnen: Beton, Silos und industrielle Vergangenheit.
Tirana, die Hauptstadt Albaniens, bekommt weiterhin kräftig Zuwachs. Ein neues ambitioniertes Gebäude strebt den Himmel empor. Es ist schon vor seiner Fertigstellung in vielerlei Hinsicht wegweisend: der Papuli Tower von Bofill Taller de Arquitectura.
Mit 190 Metern Höhe und gleich vier zylindrischen Silos, die um einen zentralen Kern gruppiert sind, wird dieser Blickfang die Skyline Tiranas künftig erweitern. Und das Projekt wird auch eine Brücke schlagen: zwischen industrieller Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Stadt.
Der Papuli Tower greift gestalterische und morphologische Elemente auf, die tief verwurzelt sind in Bofills eigenem Stammhaus, La Fábrica in Barcelona. Die Silos dort, einst Teil einer Zementfabrik, wurden in den 1970er Jahren umgebaut. Heute sind sie das Atelier und Zentrum des Architekturbüros.
Bofills Architekturbüro als Vorbild
Dieses ikonische Industriedenkmal fungiert als lebendes Archiv. Von ihm aus denken die Architektinnen und Designer ihre Formen, Materialien und Strukturen weiter. Papuli ist in gewisser Weise eine extrudierte Version dieser Silos – in einem anderen Kontext und in einem anderen Maßstab freilich.
Die vier kreisrunden Volumen, die den Turm bilden, sind um einen quadratischen Kern gruppiert. Er nimmt vertikale Verkehrswege und Versorgungseinrichtungen auf.
Vorteilhafte Anordnung der Silos
Diese Anordnung hat Vorteile: Die Fassaden bleiben frei, der Blick aus den Räumen ist in alle Richtungen großzügig. Die Innenbereiche sind flexibler nutzbar, da Ecken, die oft als problematisch gelten – etwa in Bezug auf Belichtung, Belüftung oder Raumqualität – in Grenzen gehalten sind.
Das industrielle Erbe zeigt sich auch an den Proportionen und der Materialität im Inneren: Sichtbeton mit Textur, dunkle Terrakottaböden und zum Teil hohe Lufträume prägen die Räume. All das erzeugt eine Atmosphäre, die rau und monumental ist.
Sorgfältig abgestimmtes Design
Gleichzeitig aber hat der Bau von außen auch etwas Elegantes und Kontemplatives. Und die Fassadenfenster haben nicht einfach nur eine Funktion. Sie sind Teil eines sorgfältig abgestimmten Designs, das Licht, Schatten und Sichtlinien über den Tag und die Jahreszeiten hinweg formen soll.
Programmatisch ist Papuli gemischt genutzt: Gewerbeflächen, Büros und Wohnungen. Damit entspricht er einem Trend in Tirana: Die neuen, hohen Bauten sollen nicht nur als Ikonen gedacht werden, sondern sich auch als Orte des Lebens erweisen.
Der Papuli Tower geht über ein gewöhnliches Mixed Use-Gebäude hinaus. Der Turm ist eine Hommage an die industrielle Vergangenheit Tiranas. Die Wahl der Silos, die Betonästhetik, die monumentale Form – all das verweist bewusst auf das industrielle Erbe des Landes.
Kein rein nostalgischer Rückgriff
Gleichzeitig ist Papuli Sinnbild dafür, dass ein industrielles Erbe auch transformiert werden kann. Papuli folgt also nicht dem „Glas-Schliff-Modell“ vieler moderner Hochhäuser. Das Team von Bofill bezieht klar Stellung gegen austauschbare Hochhaus-Architektur.
Papuli ist nicht das einzige Großprojekt in Tirana, das derzeit Aufmerksamkeit erregt. Die Hauptstadt Albaniens durchläuft einen tiefgreifenden urbanen Wandel – politisch, wirtschaftlich und architektonisch. Tirana 2030, der städtebauliche Masterplan unter der Führung von Stefano Boeri Architetti zusammen mit UNLAB und IND, bildet die Rahmensetzung für dieses Wachstum. Insgesamt soll die Stadt grüner werden, dichter, mit mehr öffentlichen Räumen, einer besseren Vernetzung von Grünflächen und einer neuen urbanen Identität.
Tirana als Architektur-Schauplatz
Prominentes Beispiel für die Architektur des Wandels: der New Boulevard Tower von Oppenheim Architecture. Er erhebt sich entlang des neu gestalteten Bereichs „Northern Boulevard“. Das ist ein Teil des groß angelegten Projekts, das Boulevard, Central Park und Flussufer miteinander verbinden wird. Der Turm mit 38 Stockwerken ist nicht nur ein Hochhaus, sondern Teil eines Stadteingangs. Tirana ist längst schon modern genug, damit auch nachhaltiges Bauen nicht zu kurz kommt: Und so weist der New Boulevard Tower Grünflächen, energieeffiziente Gestaltung, großzügige Balkone und öffentlichen Raum im Sockelbereich auf.
Auch Ricardo Bofill ist längst in Tirana präsent: Jüngst wuchs sein Barcelona Tower in Albaniens Hauptstadt in die Höhe. Und an der albanischen Riviera wird soeben das von Taller Bofill entworfene Red Sol Resort errichtet.
Ein weiteres Beispiel für die wachsende Hochhaus-Szene Tiranas ist der Alban Tower von Archea Associati, der 2023 fertiggestellt wurde. Ein kleineres Hochhaus mit 25 Stockwerken, das Büro- und Wohnflächen kombiniert. Mit über 100 Metern Höhe ist er noch nicht ganz in der Liga von Papuli, aber repräsentativ für den rasanten Turmbau, der in Tirana stattfindet.
Neue Formen urbaner Stadtökologie
Auch der Vertical Forest Tirana von Stefano Boeri Architetti selbst ist natürlich ein wichtiges Projekt im Rahmen von Tirana 2030. Er verbindet hier Hochhäuser mit starker Begrünung. Das Ziel: städtische Dichte mit Lebensqualität zu koppeln. Das Gebäude ist geprägt von Baumterrassen, Pflanzen an der Fassade sowie Außenräume, die das Innen-Außen-Gefüge durchbrechen.
Bauboom mit Fragezeichen
Der Bauboom wirft aber auch Fragen auf: Wie verbindet man rasch wachsende Hochhausarchitektur mit kulturellem Erbe, mit dem historischen Kontext, mit der Identität Tiranas? Welche infrastrukturellen Belastungen wird die Vielzahl an neuen Turmbauten mit der Zeit bringen? Wie wird es um Straßen, Verkehr, Versorgung, Schattenwurf stehen? Behält der Mehrwert für das tägliche Leben der Bewohnerinnen und Bewohner Tiranas die Oberhand über prestigeträchtiges Planen und Designen?
In diesem Spannungsfeld wird der Papuli Tower möglicherweise zu einem Zeichen: Er signalisiert, dass es in Tirana nicht nur um Wachstum geht, sondern auch um architektonische Tiefe. Wenn der neue Wolkenkratzer fertiggestellt ist, wird er sicher häufig als Landmark genannt werden.
Für Architekturbegeisterte bleibt Tirana derzeit eine der spannendsten Metropolen Europas. Eine Kombination aus Geschwindigkeit, Vision, Ressourcennutzung, kulturellem Erbe und ambitionierten Entwürfen.
Text: Linda Benkö
Fotos/Renderings: Studio Bofill, Till F. Teenck









