Plattenbau 2.0
Kann ein Wohnhaus aus Beton nachhaltig sein? Das Berliner Pilotprojekt Wohnregal zeigt mit der experimentellen Kreuzung aus Wohn- und Industrietypologie, wie das gehen kann. Die schnelle und kostengünstige Bauweise freut den Berliner Wohnungsmarkt.
Dem Massenwohnungsbau in den 1960er- und 1970er-Jahren – ob in östlichen oder westlichen Gefilden – lag eine gemeinsame Vision zugrunde: mit kostengünstigen und standardisierten Lösungen gegen die Wohnungsnot anbauen. Das Ergebnis war die weit verbreitete Großtafelbauweise, besser bekannt unter dem Namen Plattenbau. Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ist heute mancherorts genauso brisant wie dazumal, auch wenn die Gründe dafür andere sind. Das Architekturbüro FAR frohn+rojas hat sich deshalb das serielle Bauen in Beton noch einmal gründlich vorgeknöpft. Das Ergebnis des Pilotprojektes nennt sich Wohnregal und orientiert sich – allen Unvereinbarkeiten zum Trotz – am Industriehallenbau.
Schnell, kostengünstig, langlebig
Der Grund dafür liegt in der Dreifaltigkeit seines Bauanspruches. Industriell genutzte Hallen sollen sich zum einen schnell bauen lassen, während stets auch die Ansprüche gestellt werden, dass die Kosten möglichst niedrig bleiben und die Lebensdauer möglichst lang ist. Das unaufhörliche Schrauben an diesen Parametern hat zu seriellen Bauweisen geführt, die man sich für das sechsgeschossige Wohnregal im zentralen Berliner Ortsteil Moabit zunutze gemacht hat.
Das Wohnregal bietet ein Höchstmaß an unterschiedlichen Wohn- und Arbeitsräumen für eine immer breitere Palette urbaner Lebensstile.
FAR frohn+rojas, Architekturbüro
Denn am angespannten Berliner Wohnungsmarkt wünscht man sich nichts sehnlicher, als schnellen und kostengünstigen Wohnraum zu schaffen, der möglichst flexibel ist und lange nutzbar bleibt. All das sollte die Bauweise mit Betonfertigteilen erfüllen, und noch mehr. „Entgegen dem Vorurteil, serielles Bauen bedeute automatisch eine Standardisierung der Wohneinheit selbst, bietet das Wohnregal ein Höchstmaß an unterschiedlichen Wohn- und Arbeitsräumen für eine immer breitere Palette urbaner Lebensstile“, unterstreicht das Büro die Individualität der einzelnen Wohnungen.
Die industrielle Inspiration der Bauweise sieht man den Wohnräumen an. Anstatt die Konstruktion unter einem Putz zu verstecken, tritt sie überall offen zutage. Der Sichtbeton und die offenen, loftartigen Räume schaffen eine charakteristische Atmosphäre. Als hätte man es tatsächlich mit Industrieflächen zu tun, die zum Wohnen adaptiert wurden.
Ein Jahr Bauzeit
Wie bei vielen Pilotprojekten üblich, lag auch in diesem Fall die Bauherrschaft beim Planungsbüro, das in Eigeninitiative aus der Vision einen realen Prototypen geschaffen hat. Architekt Marc Frohn suchte zwei Jahre nach einem passenden Grundstück und fand schließlich eine geeignete Baulücke aus Kriegszeiten. Der Rohbau stand aufgrund der detailgenauen Planung und Vorfertigung in nur sechs Monaten. Nach einem weiteren halben Jahr waren die Wohnungen bezugsfertig.
Der Clou an der Konstruktion ist, dass sie ganz ohne zusätzliche Verbindungselemente auskommt. Die Stützen und Wände hat man werkseitig mit auskragenden Auflagern versehen, während die Unterzüge und TT-Decken an diesen Stellen entsprechende Aussparungen aufweisen. Ein Baukastensystem, das sich durch die großzügigen Fugen zwischen den modularen Bauteilen auch in den fertigen Wohnräumen noch deutlich ablesen lässt.
So wird aus einem Haus ein neues
Im Gegensatz zur monolithischen Bauweise hat diese den klaren Vorteil, dass sich die zusammengesetzten Elemente bei Bedarf auch wieder trennen lassen. Sollte das Wohnhaus irgendwann in der Zukunft rückgebaut werden, so lassen sich die Einzelteile wie Bauklötze zerlegen und wiederverwenden. Im BIM-Modell, das den Wohnbau digital abbildet, sind alle Informationen abrufbar, die für einen künftigen Re-Use des Gebäudes oder seiner Einzelteile nötig sind.
Dieser zirkuläre Ansatz soll dafür sorgen, dass die eingesetzten Ressourcen im Kreislauf bleiben und nicht vorzeitig als Bauschutt enden. Auch wenn es sich beim primären Baumaterial um Beton handelt, der in der Herstellung bekanntlich eine Menge CO2 freisetzt, so relativiert sich der ökologische Fußabdruck im Laufe der berechneten Lebensdauer. In diesem Fall ist sie mit 120 Jahren festgesetzt, und theoretisch könnte man aus dem zerlegten Bausatz dann ein neues Haus bauen.
Anpassungsfähig ist gleich nachhaltig
Auch die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit von Bauwerken ist ein wichtiger Indikator für ihre Nachhaltigkeit, da sich dadurch ihr Lebenszyklus verlängert. Dem trägt das Wohnregal mit einem außenliegenden Tragwerk Rechnung. Die 13,5 Meter langen Deckenabschnitte überspannen die gesamte Breite des Gebäudes und schaffen einen stützenfreien Innenraum. Diese räumliche Freiheit ist die beste Voraussetzung für eine künftige Umnutzung oder Erweiterung und verbessert damit den CO2-Fußabdruck, der ja für die gesamte Lebensdauer eines Gebäudes berechnet wird.
Das ist übrigens etwas, das die Plattenbauten der Vergangenheit mit dem Wohnregal gemeinsam haben. Die lastabtragenden Außenwände bescheren ihnen heute, rund 50 Jahre nach ihrem Bau, die perfekten Voraussetzungen zur oft wundersamen Verwandlung. Dies zeigt etwa das Palais Brut nordöstlich von Berlin, das durch geschickte Intervention vom verwahrlosten Plattenbau zum hippen Boutique-Retreat mutierte.
Text: Gertraud Gerst
Fotos: David von Becker





