Gelandet, nicht gebaut
Das Besucherzentrum des Snæfellsjökull-Nationalparks von ARKÍS Architects auf Snæfellsnes, einer Halbinsel Islands, zieht zwar die Blicke auf sich. Aber das unprätentiöse Bauwerk, das dem Bug eines Schiffes gleicht, lässt der umgebenden Landschaft den Vortritt.
Mitten in der archaischen Weite der Halbinsel Snæfellsnes erhebt sich ein Bauwerk, das nicht nach Aufmerksamkeit strebt. Das 2022 fertiggestellte Besucherzentrum des Snæfellsjökull-Nationalparks bei Hellissandur ist mehr als nur ein funktionaler Orientierungspunkt für Touristen und Gäste. Es ist ein architektonisches Statement über das Verhältnis von Mensch, Landschaft und gebautem Raum.
Entworfen wurde das Gebäude vom renommierten isländischen Büro ARKÍS Architects. Mit einer Entwurfshaltung, die sich klar der Nachhaltigkeit und der Sensibilität für den Kontext verschreibt, ist dem Team ein Beispiel dafür gelungen, wie Architektur sich nicht über die Natur erhebt, sondern mit ihr koexistiert.
Denn die Natur auf Snæfellsnes ist kaum zu überbieten. Die dünn besiedelte Halbinsel hat zahlreiche landschaftliche Schönheiten aufzuweisen und man hat sie schon das „Island in Miniatur“ tituliert, weil sie auf kleinster Fläche alle Reize der großen Insel wiedergibt.
Kein markanter Solitär
Statt sich als markanten Solitär zu inszenieren, fügt sich das Zentrum wie selbstverständlich in die Lavalandschaft ein – als sei es nicht gebaut, sondern gelandet. Auch das von Studio RE + N entworfene Iceland Volcano Museum auf der Insel passt sich auf ähnliche Art und Weise der Umgebung an: Das ätherisch-anmutige Gebäude ist von seiner Form her einem Vulkankrater nachempfunden.
Ein wesentlicher Bestandteil des Konzepts ist der Zugang: Die Besucherinnen und Besucher nähern sich dem Bau nicht frontal, sondern über einen gewundenen Pfad durch das Lavafeld.
Das Gebäude wird dabei nur allmählich sichtbar. Es taucht langsam auf wie eine Erscheinung, die sich erst beim Gehen erschließt. Dieses „architektonische Storytelling“ erzeugt ein bewusstes Erleben von Raum, Natur und vor allem Ankunft.
Teilung als gestalterisches Echo der Umgebung
Die Anlage gliedert sich in zwei sich überschneidende Volumen: „Jökulhöfði“ – das Gletscherkap – im Süden, und „Fiskbeinið“ – die Fischgräte – im Norden. Beide Teile verfügen über eigene Funktionen und Materialien: Während das Gletscherkap mit horizontaler Holzverschalung Raum für Ausstellungen, ein Café und Veranstaltungen bietet, beherbergt der vertikal verkleidete Fischgrät-Flügel die Verwaltungsbüros, einen Souvenirshop und Bildungsräume.
Diese Teilung reflektiert nicht nur eine funktionale Logik, sondern ist auch ein gestalterisches Echo der umgebenden Natur: Zwei Blickrichtungen, zwei Erfahrungsräume – inspiriert von der Biologie des Wals, dessen Augen sich an den Seiten des Kopfes befinden und so zwei Perspektiven ermöglichen.
Einen besonderen Akzent setzt der auskragende Gebäudeteil, der über dem Lavafeld zu schweben scheint. Diese leichte Geste hat es in sich: Aufgrund der seismischen Aktivität der Region war eine besonders ausgeklügelte Tragwerksplanung notwendig, um die freitragenden Spannweiten stabil und sicher zu realisieren.
Schwebend gebaut, als Reaktion auf den Ort
Das Ergebnis ist nicht nur eine technische Meisterleistung, sondern auch ein Symbol: Das Gebäude steht nicht schwer auf dem Boden, sondern scheint in respektvoller Distanz über ihm zu schweben – als temporärer Gast in einer uralten Landschaft.
Die Architektur von ARKÍS orientiert sich am Prinzip der minimalen Störung. Der Eingriff in das Gelände wurde auf das Notwendigste reduziert, während die natürliche Topografie erhalten blieb. Der Weg zur Dachterrasse, der die Gäste mit einem eindrucksvollen 360-Grad-Panorama auf den Gletscher, das Meer und das Dorf Hellissandur belohnt, folgt diesem Prinzip der natürlichen Bewegung.
Bauen als Choreografie von Erleben
Architektur wird hier nicht nur als Hülle, sondern als Choreografie von Erleben verstanden. Zudem wurde das Besucherzentrum gemäß den Anforderungen der BREEAM-Zertifizierung geplant und gebaut. „Building Research Establishment Environmental Assessment“ ist die weltweit führende Methode zur Bewertung der Nachhaltigkeit von Immobilien. Es stützt sich dabei auf den gesamten Lebenszyklus von Gebäuden anhand von neun Kategorien und vergibt anschließend eine Gesamtnote.
Nachhaltigkeit auf isländisch
Schon in der Entwurfsphase war klar: Ökologie und Baukultur sind keine Gegensätze, sondern bedingen einander. Alle verwendeten Hölzer sind FSC-zertifiziert. FSC steht für Forest Stewardship Council. Es ist ein internationales Zertifizierungssystem für nachhaltige Waldwirtschaft.
Im Fall des Besucherzentrums des Snæfellsjökull-Nationalparks hat man sämtliche Bauabfälle minimiert, erfasst und dokumentiert. Der Betrieb des Gebäudes folgt einer „grünen Buchhaltung“. Diese erfasst den Energie-, Wasser- und Tageslichtverbrauch und bewertet diesen jährlich.
Besonderes Augenmerk lag auf der Auswahl langlebiger, wartungsarmer Materialien, die der rauen Witterung der Region trotzen können, ohne zusätzlichen Schutz zu benötigen. Dadurch fügt sich das Gebäude auch visuell in die Umgebung ein. So wird die natürliche Alterung des Materials zum Teil des gestalterischen Ausdrucks.
Snæfellsjökull Visitor Centre: Mitgedachte Mobilität
Auch die Mobilität wurde mitgedacht: Fuß- und Radwege führen direkt durch das Gebäude, das von beiden Seiten zugänglich ist. Der Weg durch das Zentrum ist mehr als eine Passage – er ist Teil des architektonischen Erlebnisses, ein fließender Übergang zwischen bebauter und unberührter Natur.
Mit einer Fläche von rund 710 Quadratmetern ist das Zentrum bewusst kompakt gehalten – seine Wirkung entfaltet es durch Konzeption und Atmosphäre. Es dient nicht nur der Besucherinformation, sondern ist zugleich Bildungsstätte, Plattform für kulturellen Austausch und Teil der Naturerfahrung.
Raum für Bildung, Begegnung und Perspektiven
Die Dauerausstellung wird ergänzt durch einen Vortragssaal, Bildungsräume und ein Café, das vom lokalen Restaurant „Matarlist“ betrieben wird. Speziell ausgebildete Ranger und Servicepersonal stehen für Führungen und Informationen bereit und schaffen damit eine direkte Schnittstelle zwischen Mensch und geschütztem Naturraum.
Gegenentwurf zum Landmark-Design
Das Besucherzentrum von Hellissandur ist ein Gegenentwurf zu spektakulärem „Landmark-Design“. Es will nicht durch Größe oder ikonische Geste beeindrucken, sondern durch Präsenz, Haltung und Verantwortung. Es ist ein Ort, der nicht dominieren, sondern integrieren will – in die Landschaft, in das ökologisch-kulturelle Gefüge und in die Erfahrungen der Besucher.
ARKÍS Architects zeigen mit diesem Projekt exemplarisch, was Architektur auch mit uns macht: Ein wechselseitiges Zuhören, Reagieren, Schützen und sich Öffnen. Die Architektur des Snæfellsjökull-Besucherzentrums ist keine laute Bühne – sondern ein stiller Vermittler zwischen Mensch und Natur. Ein Bauwerk, das durch Zurückhaltung Größe zeigt.
Text: Linda Benkö
Fotos: Karl Vilhjálmsson