Ein Herz aus Holz
Eine 40-Quadratmeter-Lücke in einer Häuserzeile im mexikanischen Morelia und ein riesiges Loch im Herzen des Auftraggebers galt es für die Planer von HW Studio zu füllen. Sie taten es mit Licht, Holz und Erinnerungen – Casa Emma.
Es gibt Aufträge, die bereiten selbst erfahrenen Architekten Kopfzerbrechen. Etwa jener von Alejandro Solís Hernández. Denn als er an die Planer von HW Studio herantrat, die bereits ein anderes herausforderndes Projekt in seiner Heimatstadt Morelia umgesetzt hatten, galt es für sie nicht nur, ein gerade einmal vier mal zehn Meter großes Grundstück zu bebauen. Alejandro hatte vor kurzem auch eine geliebte Verwandte verloren, Emma. Und die Erinnerung an sie sollte im Gebäude ebenso weiterleben können wie er selbst mit seiner kleinen Familie.
Während also der Name für das Projekt schnell gefunden war – Casa Emma –, brauchte der Planungsprozess Zeit, Fingerspitzengefühl und: Inspiration. Letztere lieferte zum einen die Namensgeberin selbst. Ihr Leben lang hatte sie sich den einfachen, rustikalen Holzbauten in ihrer mexikanischen Heimatregion Michoacán verbunden gefühlt. Und so orientierte sich das Team um den leitende Architekten Rogelio Vallejo Bores bei seinem Entwurf an den alten Kornspeichern der indigenen Purépecha, den trojes. Doch was mit Casa Emma entstand, war weit mehr als ein Zitat der Tradition. Denn zum anderen ließ man sich für das Design der Wohnräume auch von einem Museumsbesuch beflügeln.
Inspiration und Erleuchtung
Genauer gesagt: von einem Besuch im Museum „Casa das Histórias Paula Rego“ nahe Lissabon, entworfen von Eduardo Souto de Moura. Dort stand das Team von HW Studio einst unter einer der Pyramiden – und wurde überwältigt. Vom Licht, vom Raum und von einer Ruhe, die sie fortan nicht mehr losließ. Zwar unterscheidet sich eine Galerie für eine der großen Malerinnen der Moderne stark von einem kleinen Wohnhaus. „Doch wie das Licht sanft durch ein hohes Oberlicht fiel und sich wie goldene Strahlen über die Oberflächen ergoss, alles berührte und zum Leben erweckte, ließ uns nicht mehr los“, erzählen die Architekten. Genau dieses Gefühl sollte auch Casa Emma innewohnen. Und fortan dem Auftraggeber jene Kraft schenken, die er brauchte, um seinen Verlust zu überwinden.
Zwei Jahre und 120.000 US-Dollar später. Von außen wirkt Casa Emma fast hermetisch: ein monolithischer Körper aus Beton und Mauerwerk, verputzt mit Chukum – einer traditionellen Mischung aus dem Harz des gleichnamigen, regionalen Baumes, Wasser und Steinpulver aus Yucatán. Von der Straße aus sind weder das steil abfallende Dach noch die Oberlichter zu erkennen. Und nur ein kleines, quadratisches Fenster mit tiefem Laibungsschnitt und eine schlichte Tür durchbrechen die massive Fassade in der Häuserzeile. Nichts lässt also erahnen, was sich dahinter verbirgt. Wer Casa Emma dann betritt, schreitet wie durch ein Portal – in eine andere, kontemplative Wirklichkeit. Geprägt wird sie von einem vollkommen mit Holz verkleideten Innenraum, der wie aus dem Volumen herausgeschnitzt wirkt. Zenitale Oberlichter lassen das Tageslicht auf klare Kanten herabregnen. Ansonsten dringt nichts herein. Kein Lärm, keine Hektik. Nur Stille.
Kleines Grundstück, wahre Größe
Die Wohnfläche des Gebäudes misst gerade einmal 54 Quadratmeter. Die vertikale Erschließung und die Lichtführung verleihen dem Haus dennoch Größe. Es wurde nicht gebaut, es wurde herausgearbeitet – wie eine Ausgrabung. Das Innere scheint dem Volumen regelrecht entnommen. Jeder Kubikzentimeter wurde zudem durchdacht genutzt. HW Studio gelang es nämlich, zwischen Ziegelmauerwerk, geneigten Stahlbetondecken und Böden aus Beton eine komplexe Abfolge von Zonen zu erschaffen.
Hinter dem Eingangsbereich folgt man einem abgewinkelten Flur, der den Blick nicht sofort freigibt, sondern lenkt. Dann öffnet sich der zentrale Raum: Wohn-, Essbereich und Küche verschmelzen zu einer offenen Einheit. Keine unnötigen Wände, keine Unterbrechungen stören den Fluss von Raum und Licht. Die Möblierung – durchgehend aus demselben Holz wie Wände und Decken – wirkt eingebaut, maßgeschneidert, fast als wäre sie Teil des Raums. Oder besser gesagt: So als wäre das Haus selbst ein Möbelstück. Damit nichts diesen Eindruck stört, hat man funktionale Elemente – wie Kühlschrank und Stauraum – dezent hinter der Küchenzeile und Holztüren verborgen.
Ein Haus wie ein Möbelstück
Am Ende des Erdgeschosses führt eine kompakte Wendeltreppe nach oben. Dort, auf einer Mezzanine unter dem Hauptoberlicht, befindet sich das Schlafzimmer. Und mit der Wohnfunktion, dem Übergang vom öffentlichen zum privaten Bereich, verändert sich auch die Materialität: Schlanke weiße Geländer ersetzen die massive Holzsprache des restlichen Hauses, sodass hier eine Art Kokon entsteht. Durch die sanfte Lichtstreuung entlang der Kanten scheint dieses Volumen wie eine fluffige Baumwollblüte im Raum zu schweben. Diese bewusste Differenzierung erzeugt Leichtigkeit, eine fast spirituelle, ätherische Qualität. Und weil nichts diese Ruhe stören soll, versteckt sich das kleine, mit Chukum verputztes Badezimmer hinter einer Funktionswand. Die Wendeltreppe führt schließlich weiter hinauf auf eine Dachterrasse am hinteren Ende des winzigen Grundstücks.
Von den weicheren Linien einiger Sitzmöbel und der Wendeltreppe abgesehen, ist das Design im Inneren durch klare, geometrische Formen geprägt. Minimalistisch ist Casa Emma damit zweifellos – aber nicht cool. Es ist vielmehr warm. Sanft. Und zutiefst poetisch. Jeder Winkel, jede Oberfläche spricht von Achtsamkeit. Die verwendeten Materialien tragen regionale Identität in sich. Und sie altern würdevoll. Die schräg verlaufenden Linien des Daches lenken den Blick nach oben – dorthin, wo das Licht eintritt. Genau das geschieht auch unter den Pyramiden des Museums Casa das Histórias Paula Rego.
Emotionale Choreographie
Das kleine Haus löst große Gefühle aus. Auch weil es HW Studio versteht, Licht als Werkzeug, eizusetzen, um Emotionen zu erzeugen. In Casa Emma fällt Licht nicht einfach ein. Es choreografiert, berührt, umarmt, modelliert und verwandelt enge Räume in Weite, Tiefe in Geborgenheit. Das Licht ist nicht eben nicht nur Beiwerk, sondern Hauptdarsteller. „Wir wollten, dass Casa Emma ein Ort wird, an dem man sich wieder mit seiner Seele verbinden kann“, sagen die Architekten. Ihr Ziel, „einen Raum zu schaffen, der dich beruhigt und dich einlädt, zu atmen“ haben sie jedenfalls erreicht.
Wir wollten, dass Casa Emma ein Ort wird, an dem man sich wieder mit seiner Seele verbinden kann.
Die Planer von HW Studio
So ist Casa Emma am Ende nicht nur ein architektonisches Statement, sondern auch eine eine Hommage. An das Licht, an das Holz, an das, was bleibt. Und an Emma, die sicher durch die Oberlichter von oben hinunterschaut. Auf ihre Familie, die sich von der HW-Studio-Architektur trösten, heilen und erinnern lässt.
Text: Daniela Schuster
Bilder: Cesar Bejar