Eine Fuge zwischen Berg und Tal
Die Form ist eine Fusion aus alpiner Architektur und zerklüfteter Bergkette. Das neue Kongress- und Messezentrum in der norditalienischen Gemeinde Agordo lotet die ästhetische Ausdrucksform des Holzbaus neu aus.
Das Hochgebirge der Dolomiten hat eine eigene alpine Bauform hervorgebracht. Die sogenannten Tabià sind charakteristische Holzscheunen auf einem Steinsockel, unten meist als Stall für die Tiere genutzt, oben als Lagerplatz für Heu, Brennholz und Getreide. Auch wenn sie heute oft zu luxuriösen Chalets ausgebaut sind, so prägen sie mit ihren teils vergitterten Fassadenöffnungen nach wie vor das architektonische Erscheinungsbild mancher italienischer Hochtäler. Abgesehen von ihrer Ästhetik waren die Tabià auch von besonderer soziokultureller Bedeutung. Der Bau dieser Gebäude basierte traditioneller Weise auf gemeinwirtschaftlicher Zusammenarbeit. Jeder half jedem, ohne etwas für die einzelne Leistung zu verlangen. Der Lohn war, dass man beim Bau der eigenen Tabià auf die Hilfe der Gemeinschaft zählen konnte.
Vom regionalen Holzbau inspiriert
In der nordostitalienischen Gemeinde Agordo in der Provinz Belluno lieferten diese traditionellen Scheunen den gestalterischen Ausgangspunkt für das neue Kongresszentrum. Die Architekten Andrea Botter und Emanuele Bressan verschränkten die traditionelle Typologie der Region mit der alpinen Landschaft ringsum. Die Form, die sich daraus ergab, bildet eine harmonische Fuge zischen dem Siedlungsraum im Tal und den schroffen Bergkämmen darüber.
Das Projekt bezieht sich auf die typische Landschaft von Agordo und seine urbane Morphologie und kreiert eine neue Sprache.
Andrea Botter und Emanuele Bressan, Architekten
Der langgestreckte Komplex bildet durch die Aneinanderreihung von flach geneigten Giebeldächern eine sanfte Welle und wirkt dadurch sehr organisch. Wie ein Band, das sich in die Ausformungen der Landschaft legt. Die sichtbaren diagonalen Zugstreben haben eine statische Funktion – sie steifen den Holzbau an der Längsseite aus – und sind zugleich ein bewusst gesetztes Stilelement. Als Variation der X-förmigen Außenverstrebungen, die man bei den alten Tabià vorfindet, sorgen sie dafür, dass die überlieferte Holzbauweise weiterlebt. „Das Projekt bezieht sich auf die typische Landschaft von Agordo und seine urbane Morphologie und kreiert eine neue Sprache“, formulieren die Architekten ihren gestalterischen Ansatz.
Ökologisch in Bau und Betrieb
Dass die tragende Struktur in Holz konzipiert ist, ist natürlich nicht nur der alpinen Bautradition geschuldet, sondern auch der ökologischen Nachhaltigkeit. Der nachwachsende Baustoff Holz und die gewählte Form sorgen für eine sehr gute CO₂-Bilanz, sowohl beim Bau als auch im Betrieb. Die großen Dachüberstände von 5 bis 8,5 Meter halten Witterungseinflüsse von der Holzkonstruktion fern. Außerdem sorgen sie dafür, dass die raumhohen Glasfassaden an der Nord- und Westseite im Sommer vor direkter Sonneneinstrahlung geschützt sind, während die tief stehende Sonne im Winter den Raum erwärmt und die Heizkosten senkt.
Die hohe Transparenz des Gebäudes durch die Glasfassaden und die sichtbare Holzkonstruktion verleihen dem Kongresszentrum trotz seines stolzen Volumens von rund 80.000 Kubikmeter eine Leichtigkeit. Wie im konstruktiven Holzbau üblich, wurden die vorgefertigten und teilweise vormontierten Bauelemente vor Ort mit Kränen montiert. Dadurch ergab sich eine extrem kurze Bauzeit für die Halle von nur zwei Monaten.
Respekt für Land und Mensch
Der neue Komplex wird für öffentliche und private Anlässe genutzt und bietet mit einer Kapazität von rund 5.000 Personen einen Mehrwert für die Community. Hier finden Konzerte, Theateraufführungen, Kongresse, Konferenzen, Messen und Kunstausstellungen statt. „Auch wenn sich das Kongresszentrum außerhalb des städtischen Siedlungsraumes befindet, hat es einen starken strategischen Charakter und ist gut an die öffentliche Infrastruktur angebunden“, wie die Architekten versichern.
Die luftige Holzfachwerkkonstruktion, die zwischen Berg und Tal vermittelt, schafft durch die Anknüpfung an die regionale Baukultur auch eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ein Musterstück moderner Architektur, das dem Land und seinen Menschen mit Achtsamkeit und Respekt begegnet.
Text: Gertraud Gerst
Fotos: Simone Bossi