Industriebrachen als Schatztruhen
Einem Lagerhallen-Komplex im Salzburger Stadtteil Liefering steht eine Zukunft als modernes Wohnquartier bevor. Denn das Projekt „Lieferling“ des auf adaptive Re-Use spezialisierten Büros smartvoll nützt Industriebrache geschickt als architektonische Schatztruhe.
Unansehnlich und verwaist dämmern zahllose Industriebrachen vor sich hin. Eine ungenutzte Ressource, die wahre Schätze birgt. So sehen dies jedenfalls die Architekten des Wiener Büros smartvoll, das seit Jahren auf adaptive Re-Use statt Abriss setzt. Mit gutem Grund: Nach- und Umnutzung von Bestandsgebäuden spart Bauabfall und CO2-Emissionen und gewinnt Boden für neue Lebensqualität zurück. Mit Projekten wie dem Handelszentrum 16 höchst erfolgreich, macht sich das Team nun auf zum nächsten Streich: Dem spannenden Projekt Lieferling im Salzburger Stadtteil Liefering.
Betonklotz wird zum Stadtquartier
Der „Patient“, wie die smartvoll-Architekten das Gebäude fast liebevoll nennen, ist ein Ensemble mit Waschbeton-Fassade und Wellblech-Lagerhallenanbau. Und er soll bald zum lebendigen Quartier werden, in dem es sich bestens wohnen und arbeiten lässt.
Schon die Lage des Objekts am Rottweg, im Gewerbegebiet am südwestlichen Rand von Liefering, hat viele Vorteile. Dazu zählen etwa der schnelle Zugang zur Innenstadt sowie die Top-Anbindung an überregionale Verkehrswege und ein dichtes Radwegnetz.
Gute Lage, gute Aussichten
Auch die Umgebung hat durchaus Idyllisches zu bieten. Denn abgesehen von weiteren Lagerhallen findet sich ringsum ein typisches Stadtrand-Potpourri aus zweistöckigen Bürogebäuden und kleinteiliger Wohnbebauung samt Tujenhecken und Holzgiebeln. Obendrein hat man hier freien Blick aufs Alpenpanorama und befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu Naherholungsgebieten wie den Salzachseen, dem Saalach Fluss und grünen Naturlandschaften.
Doch die Lage ist natürlich nur ein Punkt, der die Planer dazu bewegt, die ehemalige Industriehalle als „architektonische Schatzkiste“ zu bezeichnen. Der Grund dafür liegt vor allem auch in den unzähligen Möglichkeiten, die diese Industriebrache eröffnet.
„Schatztruhe“ Industriebrache
Die Anlage besteht aus vier miteinander verbundenen Baukörpern. Genauer gesagt, aus drei weitgehend stützenfreien Hallen und einem zweigeschossigen Bürotrakt. Der effiziente Fertigteilstahlbeton-Skelettbau der Hallen bietet enorme Anpassungsmöglichkeiten. Flächige Oberlichter und Fensterbänder sorgen für viel Tageslicht. Und die durchgehende Fußbodenebene erleichtert nicht nur Logistikprozesse, sondern erlaubt auch höchst flexible Nutzung der Flächen.
Dass es Sinn macht, den 1981 errichteten und 2009 erweiterten Komplex statt der Abrissbirne neuer Nutzung zuzuführen, liegt auf der Hand. Vor allem auch, weil die Menge an Beton, die in der ehemaligen Industriehalle verbaut wurde, in etwa 2.400 Mischfahrzeugen entspricht. In der Industriebrache am Rottweg steckt also jede Menge grauer Energie. Durch Wiederbelebung statt Abbruch kann der Bestand nachhaltig genutzt werden.
Projekt Lieferling: Ort der 1.000 Möglichkeiten
Wie das Projekt Lieferling im Detail aussehen wird, hängt stark von den Bedürfnissen der künftigen Nutzer ab. Denn, so die smartvoll-Architekten: „Sie sind der Schlüssel zu einer lebendigen, vielseitigen Entwicklung. Die Möglichkeiten sind grenzenlos“.
Die imposante Raumhöhe und wandelbare Struktur der Industriebrache erweist sich als ideal für innovative Start-ups, stilvolle Showrooms oder kreative Manufakturen wie Tischlereien. Auch moderne Räume für sportliche Aktivitäten – etwa Indoor-Tennis oder Fitness – sollen im neuen Quartier Platz finden.
Kurze Umbauzeit, langes neues Leben
Derzeit befindet sich das Vorhaben in der Einreichphase. Als realistischen Termin für den Baubeginn nennt das Büro smartvoll 2026 – und rechnet mit zirka einem Jahr Arbeitsdauer bis zur Fertigstellung. Das Projekt Lieferling, das 8.793 Quadratmeter Bauplatzfläche und 35.600 Kubikmeter umbauten Raum (Bestand!) umfasst, soll dem ansonsten nutzlosen Gebäudeensemble weitere 50 Jahre sinnvoller Nutzung verschaffen.
Und, um einen in Zeiten rasanten Bodenverbrauchs wichtigen Aspekt zu nennen: Durch den Umbau wird nicht nur wertvolle Fläche neu genutzt, sondern auch ein Teil des Geländes entsiegelt, was für ökologische und soziale Mehrwerte sorgt.
Welch riesiges Potenzial in kluger Umnutzung von Bestandsbauten steckt, sehen und nützen inzwischen immer mehr Planer und Architekten in aller Welt. Eindrucksvolle Beispiele sind etwa die Transformation einer Shanghaier Zementfabrik durch das Büro MVRDV, eines ehemaligen Heizwerks durch Studio Perspektiv in Bratislava oder der historischen Meelfabriek in Leiden nach Studio Akkerhuis‘ Plänen.
Wiener Expertise
Die in Wien ansässigen smartvoll-Architekten arbeiten neben dem Projekt Lieferling auch an anderen Umnutzungsvorhaben, wie etwa dem „Autopalast“, der ein Parkhaus in Wohnraum verwandelt. Und sie konnten mit ihrem bereits fertiggestellten Projekt Handelszentrum 16 Auszeichnungen und Top-Nominierungen bei internationalen Awards (unter anderem ArchDaily „Building of the Year 2025“) für sich verbuchen.
Der Fokus des österreichischen Teams auf adaptive Re-Use kommt nicht von ungefähr: „Industriebrachen sind hierzulande eine unterschätzte Ressource. Während leerstehende Wohngebäude gerade einmal die Fläche einer Ameise auf dem Leerstandsradar ausmachen, gleicht der industrielle Leerstand einem Godzilla. Es ist also Zeit, dieses schlafende Potenzial zu wecken und bestehende Strukturen neu zu denken.“ Fakten, die wohl nicht allein auf die Alpenrepublik zutreffen.
Umdenken gefragt
Was nötig ist, um diese „Schatztruhe“ zu öffnen und damit auf nachhaltige Art von Nachverdichtung auf vorhandenen Flächen zu profitieren, erklären die Experten so: „Um das Wohnen in Gewerbegebieten möglich zu machen, bedarf es einer neuen Widmung, um monofunktionale Strukturen aufzubrechen und lebendige, durchmischte Quartiere zu schaffen.“
Optimale Lösung hierzu sei das Modell der „Zwiebelwidmung“: Wohneinheiten werden an den gut belichteten und belüfteten Fassaden angeordnet, während gewerbliche Nutzungen im Kern verbleiben. Damit wird, so die smartvoll-Architekten, die Flächenqualität stufenweise gesteigert und bessere Nutzung vorhandener Ressourcen ermöglicht: „Durch diese Neuausrichtung wird das Gewerbegebiet nicht nur attraktiver, sondern unterstützt auch die Ziele nachhaltiger und sozial gemischter Stadtentwicklung.“
Exempel nachhaltiger Stadtverdichtung
Genau dies soll eben auch das Projekt Lieferling bewirken. Als neues Quartier, das Wohnen, Arbeiten und Freizeit bei bester Lebensqualität verspricht. Die Umnutzung der Industriebrache am Rottweg ist beispielhaft für bodenschonende Entwicklung und nachhaltiges Bauen.
Zudem sind die Planer überzeugt, dass durchdachte Integration neuer Wohn- und Gewerbeflächen einen klaren Win-Win-Effekt erzeugt: „Das Umfeld erfährt eine städtebauliche Aufwertung, während gleichzeitig die benachbarten Gewerbebetriebe von einer belebten, modernen Nachbarschaft profitieren.“
Fix ist: Ein unansehnlicher, verwaister Bestandsbau geht – statt aufwändigem Abbruch – einer neuen Zukunft als einladender Wohnort entgegen. Wo einst Hochregale Lager füllten, entsteht ein bunter, zukunftsfitter Nutzungsmix. Oder, wie es die smartvoll-Architekten formulieren: „From Warehouse to Their House“.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: smartvoll