Nach acht Jahren Bauzeit wurde jetzt der größte waagrechte Wolkenkratzer der Welt eröffnet. Ein Bauwerk, das selbst im von Superlativen verwöhnten China als spektakulär gilt.

Was wir als groß oder hoch wahrnehmen, hängt von mehreren Faktoren ab. Von der Distanz die wir dazu einnehmen etwa. Von der Möglichkeit, die vorliegenden Parameter mit uns bekannten zu vergleichen ebenso. Und auch von dem, was man als „normal“ wahrnimmt.

Erster waagrechter Wolkenkratzer

Kleines Beispiel: Wenn etwa in Wien ein Hochhaus wie der 220 Meter hohe DC Tower aus dem Boden gestampft wird, spricht man in Österreich von einem gigantischen Bau.

Wenn wir jedoch Bauwerke wie den soeben fertiggestellten ersten waagrechten Wolkenkratzer der Welt daneben platzieren würden, wäre der DC Tower bloß mickrig.

Gigantisches Prestigeprojekt

Denn dieses eben erwähnte und gerade eröffnete Bauwerk ist selbst für China und Chongqing, die Stadt in der es errichtet wurde, monumental. Und das aus gutem Grund: Chongqing möchte mit diesem Prestigeprojekt endlich aus dem Schatten Tokios treten – und international als das wahrgenommen werden was es ist: Die größte Stadt der Welt.

Welche ist die größte Stadt?

Kurzer Exkurs: Während nämlich Tokio mit über 38 Millionen Menschen die Rangliste in Bezug auf die Einwohnerzahl anführt, hat Chongqing im Ranking der flächenmäßig größten Städte die Nase vorn. Um das in westliche Relationen zu rücken: Tokio hat etwas mehr Einwohner als Kanada. Und Chongqing ist ziemlich genau so groß wie ganz Österreich.

Allein, in Sachen Bekanntheitsgrad spiegelt sich dieses Kräfteverhältnis eben nicht wider. Das soll sich nun endlich ändern. Eben dieser Megabau soll dabei helfen. Kein Wunder also, dass wir aus unserer Perspektive dessen Dimensionen nur sehr schwer fassen können. Aber versuchen wir es einfach einmal.

Acht senkrecht, eins waagrecht

Unter dem Namen „Raffles City“ wurde in den vergangenen acht Jahren ein zusammenhängender Komplex aus acht Wolkenkratzern errichtet. Sechs davon sind zudem durch eine gigantische gläserne Brücke miteinander verbunden. Diese liegt gewissermaßen auf vier 250 Meter hohen Wolkenkratzern, trägt den Namen „The Crystal“, ist mit einer Länge von 300 Metern in etwa so groß wie der Eiffelturm hoch – und gilt als der erste und naturgemäß größte waagrechte Wolkenkratzer der Welt.

Gigantisches Herzstück

Vor allem ist die Brücke das spektakuläre Herzstück dieses Stadtentwicklungs-Projekts, das auf einem historischen Areal gen Himmel ragt. Aber dazu später. Werfen wir erst einen detaillierten Blick auf diese gigantische Schwebe-Konstruktion.

Das Heben der drei mittleren Stahlsegmente des Kristalls – jedes bis zu 1.100 Tonnen schwer – auf die vorgesehene Höhe von 250 Metern war eine Weltneuheit.

Die Architekten von „The Crystal“

Waagrechter Wolkenkratzer

Waagrechter Wolkenkratzer

Das vom israelischen Architekten und Städtebauer Moshe Safdie konzipierte Objekt besteht aus insgesamt 3.000 Glasmodulen und 5.000 Aluminiumeinheiten. Es basiert zudem auf insgesamt neun Einzelstücken.

Meisterleistung der Ingenieure

Um diese aneinander zu fügen, wurden die drei wichtigen Mittelstücke bereits am Boden zusammengesetzt und dann mit einer Art riesigem Flaschenzug nach oben transportiert. Vier weitere Einzelstücke wurden erst in der Höhe zusammengebaut. Dazu sagen die Architekten offiziell: „Das Heben der drei mittleren Stahlsegmente des Kristalls – jedes bis zu 1.100 Tonnen schwer – auf die vorgesehene Höhe von 250 Metern war eine Weltneuheit.“ Eine Meisterleistung. Selbst für chinesische Maßstäbe.

Purer Nervenkitzel

Seit Ende Mai erleben die Gäste auf dem ungewöhnlichen Deck nun jedenfalls einen besonderen Nervenkitzel. Besteht doch nahezu der gesamte Boden aus Glas und bietet so einen mehr als ungewöhnlichen „Rundumblick“ auf die Stadt. Vor allem aber wird der Blick unweigerlich auf die darunter liegende Verschmelzung der beiden Flüsse Jangtse und Jialing gelenkt.

Der Glasboden ermöglicht einen buchstäblichen „Rundumblick“ …

Genau das war auch die Absicht von Moshe Safdie und seinem Studio Safdie Architects. Schließlich stehen die Türme mit dem waagrechten Wolkenkratzer an einer historisch bedeutsamen Stelle: Dort, wo sich die beiden Flüsse vereinigen, wurden einst die Erlässe des Kaisers entgegengenommen und in Umlauf gebracht. Die Stelle galt als Tor zum Volk.

Wo acht Türme Segel setzen

Demnach wurden auch die acht nach Norden ausgerichteten Türme so erbaut, dass sie die Form von Segeln ergeben. Alles in allem ergibt sich so ein beeindruckendes Gesamtbild, das an die alten Segelschiffe erinnern soll, die früher über die beiden angrenzenden Flüsse den Austausch von Waren gewährleisteten.

Ort der Unterhaltung

Während das Handeln mit Waren in den senkrechten Wolkenkratzern auch heute Sinn der Sache ist – Shopping-Malls, hochwertigen Luxusresidenzen, Büros, Servicewohnungen und Hotelflächen sind darin beheimatet – soll „The Crystal“ vor allem dem Genuss, der Unterhaltung und dem Tourismus offen stehen. Pools, Parks mit neun Meter hohen Bäumen, Restaurants, Ausstellungen und viele andere Attraktionen sind hier entweder schon in Betrieb oder im Entstehen.

Das Interesse der Bevölkerung ist jedenfalls richtig, richtig groß: Allein bei der Eröffnung wurde „The Crystal“ von über 900.000 Menschen gestürmt. Das wäre übrigens so, als würde die Hälfte der gesamten Wiener Bevölkerung an einem Tag zusammenkommen.

Apropos Zahlenspiele – zum Abschluss haben wir noch ein paar vorbereitet:

  • Mit einer Länge von 300 Metern ist “The Crystal” länger als Singapurs höchstes Gebäude. Das Konstrukt ist auch mehr als dreimal so hoch wie die Freiheitsstatue in den Vereinigten Staaten, die 93 Meter misst.
  • Die durchgehende Stahlkonstruktion wiegt 12.000 Tonnen. Das entspricht dem Gesamtgewicht des französischen Eiffelturms.
  • Im Kristall werden fast 120 Bäume beheimatet sein, die nach ihrer Reifung eine Höhe von etwa 9 Meter haben werden.
  • Das Crystal wird zwei Pools aufweisen, einen 50 x 8 Meter großen Hauptpool und einen angrenzenden 10 x 8 Meter großen Kinderpool.

Text: Johannes Stühlinger
Bilder: Safdie Architects

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