Das „Quartier der tanzenden Paare“
Ein einstiges Industriegelände in der Züricher Gemeinde Wangen-Brüttisellen wird zum modernen Wohnviertel: KCAPs Entwurf für das „Quartier der tanzenden Paare“ schafft vor Ort eine kleine, nachhaltige Welt, die Nachteilen des Standorts auf geschickte Weise trotzt.
Mag sein, dass der Ortsname Wangen-Brüttisellen bisher nur wenigen Nicht-Schweizern ein Begriff ist. Doch die an Zürich grenzende Gemeinde wächst rasant. Und so strebt man vor Ort nach Verdichtung, die neuen Wohnraum schafft. Einen entsprechenden Wettbewerb hat jüngst das niederländische Büro KCAP für sich entschieden. Mit einem Entwurf, dessen Name ebenso außergewöhnlich ist wie das Projekt selbst: Auf dem zuvor industriell genutzten Erni-Areal entsteht das „Quartier der tanzenden Paare“. Ein neues, nachhaltiges Wohnviertel, das bestehende Probleme des Standorts durch geschickt durchdachte Architektur löst.
Komplexes Vorhaben
Das teilweise überbaute ehemalige Erni-Areal soll künftig 279 neue Wohnungen, moderne Büros, Geschäfte und Gastronomie bieten. Kurzum: Der Auftraggeber, nämlich die Schweizer Immobiliengesellschaft Mobimo, hat sich das Ziel gesetzt, ein lebenswertes Mixed-Use Quartier zu entwickeln. Kein ganz einfaches Unterfangen für die KCAP Architekten und ihre Kooperationspartner, die Landschaftsplaner von Studio Vulkan und die Nachhaltigkeitsspezialisten von Raumanzug. Denn die Lage des 36.000 Quadratmeter großen Grundstücks hat ihre Tücken.
Der Bauplatz fürs „Quartier der tanzenden Paare“ ist von kleinteiliger Wohnbebauung, kompakten Hochhäusern und verschiedenen Gewerbebetrieben – darunter ein Hochregallager für Coca-Cola – umgeben. Weil das Unternehmen seine Aktivitäten aktuell ausweitet, werden die Größenunterschiede noch größer. Zudem ist der Standort stark lärmbelastet: Er befindet sich in der Nähe einer Autobahnausfahrt, an einer viel befahrenen Durchgangsstraße und direkt unter der Einflugschneise des Flughafens Zürich.
Wir haben uns vom Walzer, einem Tanz für zwei Personen in geschlossener Haltung mit schnellen Drehungen und festem Schrittmuster, inspirieren lassen.
Ute Schneider, KCAP Partnerin
Auf nahe Großprojekte wie das Brüttiseller Tor, das Coca Cola Hochregallager oder das Ringstraßenquartier reagiert KCAPs Konzept entspannt und geradezu selbstbewusst: Statt großer Gesten und spektakulärer Highlights schafft das Design mit kompakter, niedriger Bebauung einen deutlichen Kontrast. Die hohe Dichte lässt im Inneren des Quartiers der tanzenden Paare eine Art eigener Welt entstehen. Ein geschütztes Umfeld mit gemütlichen, kleinteiligen Nischen und einem „Rückgrat“ aus miteinander verzahnten öffentlichen Räumen.
Die gestaffelte Anordnung der Gebäude erfüllt einen klaren Zweck: Sie wirkt wie eine Lärmschutzwand. Zugleich sorgt der Entwurf dafür, dass das „Quartier der tanzenden Paare“ offenen Charakter bewahrt. Die Wohnungen finden sich vor allem in den geschützteren Bauten, während KCAPs Plan Blöcke mit flexiblen Büroflächen und Penthouse-Einheiten an die Durchgangsstraße und die Autobahnausfahrt setzt. All dies nicht ohne das Erni-Areal durch physische und visuelle Verbindungen in sein Umfeld einzubetten. Viele kleine Öffnungen und Zugänge entlang der harten Kante garantieren ein hohes Maß an Durchlässigkeit.
Vier Formen mit „Zwilling“
Der eigenwillige Projektname basiert auf der Dopplung der vier unterschiedlichen Gebäudetypologien, die der Entwurf vorsieht: Atriumhaus, Reihenhaus, Punkt- und Zwillingshaus kommen jeweils zwei Mal zum Einsatz. Dadurch entstehen Paare, die aufgrund ihrer Anordnung und Ausrichtung im Plan miteinander zu „tanzen“ scheinen.
Die Begrenzung der Gebäudeanzahl und die Reduktion auf die vier prägenden Typen mit ihrem jeweiligen „Zwilling“ ergeben eine angenehme Balance zwischen Vielfalt und Wiederholung. Die Idee, die dazu führte, erklärt KCAP Partnerin Ute Schneider so: „Wir haben uns vom Walzer, einem Tanz für zwei Personen in geschlossener Haltung mit schnellen Drehungen und festem Schrittmuster, inspirieren lassen.“
Gut bedacht im „Quartier der tanzenden Paare“
Was alle vier Typologien optisch verbindet ist die schräge Dachform, die die drei obersten Stockwerke umfasst und eine Traufe über dem vierten oder fünften Stockwerk bildet. Dies garantiert, dass reichlich natürliches Licht in die öffentlichen Räume und Wohnungen dringen kann. Die Fassaden sind visuell in drei Schichten gegliedert: Erdgeschoss, Körper und Schrägdach.
Wir wollten einen Teil der industriellen Atmosphäre erhalten und gleichzeitig Vielfalt und Kohärenz schaffen, um echtes Nachbarschaftsgefühl zu erzeugen.
KCAP Partnerin Ute Schneider
Die Architekten positionieren die vier Gebäude-Zwillinge so, dass das „Quartier der tanzenden Paare“ eine durchdachte Abfolge öffentlicher Räume bekommt. Jeder davon hat seine eigene Qualität: Die Innenhöfe sind üppig mit Bäumen bepflanzt. Die Flächen vor den Blöcken fungieren als Pufferzone zwischen öffentlichem und privatem Raum. Und die autofreien Straßen sind deutlich als solche erkennbar.
Durch ihre natürliche Bepflanzung und Beschattung dienen die öffentlichen Zonen auch als Rückhaltefläche für Regenwasser, tragen zur Kühlung des Viertels bei und fördern die Qualität des Mikroklimas.
Hybrid aus recyceltem Beton und Holz
Dass KCAP großen Wert auf Nachhaltigkeit und lebenswerte Stadtverdichtung legt, haben schon Projekte wie „Yantai Seafront Garden“ in China oder das „OKU House“ und „The Grid“ in Amsterdam bewiesen. Mit dem Design fürs „Quartier der tanzenden Paare“ auf dem Erni-Areal unterstreicht das Architekten Team dieses Credo einmal mehr. Diesfalls mit einem hybriden Konzept: Die Neubauten werden zum Teil aus recyceltem Beton errichtet. Dieser kommt allerdings ausschließlich bei Gebäudekernen, Unter- und Erdgeschossen zum Einsatz. Ansonsten sind vorgefertigte Holzbauteile das Material der Wahl.
Zudem wird das neue Quartier mit Photovoltaikanlagen, begrünten Dächern, Wärmepumpen und bestmöglicher natürlicher Belüftung ausgestattet. Und es ist darauf ausgerichtet, die Anforderungen des SNBS (Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz) zu erfüllen. Der bestehende ERNI-Hauptsitz bleibt erhalten und wird um ein Gewächshaus erweitert. Dieses ist als Gemeinschaftszentrum mit Fokus auf urbane Lebensmittelproduktion gedacht. Und als Glaspavillon, der nachts wie ein Leuchtturm Blicke aufs neue Viertel ziehen soll.
Architektin Ute Schneider: „Wir wollten einen Teil der industriellen Atmosphäre erhalten und gleichzeitig Vielfalt und Kohärenz schaffen, um echtes Nachbarschaftsgefühl zu erzeugen.“ Dass dies trotz Airport-Einflugschneise und schwierigen Umfelds gelingt, ist der wachsenden Gemeinde Wangen-Brüttisellen unbedingt zu wünschen.
Text: Elisabeth Schneyder
Bilder: Filippo Bolognese / KCAP