Das Einfamilienhaus gilt als ökologischer Sündenfall und steht bisweilen unter Beschuss. Dass immer mehr Architekten auf die Wiederbelebung von Bestandsbauten setzen, zeigt auch die neue Ausgabe von „Häuser des Jahres“.

Keine Wohnform kann die Gemüter so sehr in Erregung versetzen wie das Einfamilienhaus. Dies hat die jüngste Debatte um ein Verbot von neuen Einfamilienhäusern in einem Hamburger Stadtbezirk eindrücklich bewiesen. Bei dem Thema gehen verlässlich die Wogen hoch. Auf der einen Seite steht der Wunsch nach einem individuellen Eigenheim im Grünen. Auf der anderen Seite die rasant steigende Versiegelung von Boden und der wachsende Pendlerverkehr. Auf der schwarzen Liste der CO₂-Sünder gewinnt das Einfamilienhaus stetig an Rang. „Von Flugscham und Diesel-Scham hat man schon gehört. (…) Wird es bald auch die Einfamilienhaus-Scham geben?“, fragt Tatort-Schauspieler Udo Wachtveitel im Vorwort zur aktuellen Ausgabe von „Häuser des Jahres“.

Herzgsell, LP Architektur
Das Büro LP Architektur realisierte den ortstypischen Einhof in einer neuen Interpretation.

Wie der nebenberufliche Kolumnenschreiber konstatiert, ist in unserer Kultur der Sesshaftigkeit und des Individualismus „der Akt der Landnahme und des Schaffens von Obdach für sich und die Seinen tief verankert“. Dass das Einfamilienhaus dabei nicht immer die beste Lösung ist, das zeigen die Architekten und Bauherren im diesjährigen Bildband der Traumhäuser. Ein neues Bewusstsein im Umgang mit Ressourcen zeichnet sich ab. Ganz so, wie es auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit dem ausgerufenen European Bauhaus propagiert. 

Ein Haus, wie es sein kann

Immer mehr Architekten machen es sich im Sinne der Ressourcenschonung zur Aufgabe, Bestand zu erhalten anstatt abzureißen. „Der ständige Neubau von Einfamilienhäusern kann unseres Erachtens nicht die Antwort auf die Wohnungsfrage sein. Zumal es gleichzeitig so viel Leerstand bei bestehenden (Wohn-)Gebäuden gibt. Bei unserer Suche nach einem geeigneten Wohnraum waren wir deshalb immer auf der Suche nach gemeinschaftlichen Wohnformen oder einem interessanten Bestandsgebäude“, sagt Architektin Rike Kress vom Dornbirner Büro ARSP.

Schlafzimmer, Villa Fleisch, Dornbirn, ARSP
Eine Architektenfamilie aus Dornbirn machte aus einer alten Villa ein modernes Domizil.

Villa Fleisch, Dornbirn, ARSP
Ein vorgesetzter Stahlbau schafft ein begehbares „Gartenregal“.

Es ist eine Qualität, in einem Bestandsgebäude nicht das zu sehen, was es ist, sondern was es sein kann.

Jury, Häuser des Jahres 2021

Die Architektenfamilie schaffte es mit ihrem eigenen Wohnhausprojekt in Dornbirn in die Liste der 50 besten Einfamilienhäuser des Jahres. Sie revitalisierte die Villa Fleisch aus dem Jahr 1929 und erweiterte sie um einen vorgesetzten Stahlbau. Dieses begehbare „Gartenregal“ macht den Umbau von außen sichtbar und „schafft einen witterungsgeschützten Außenraum“, urteilte die Jury und lobte weiter: „Es ist eine Qualität, in einem Bestandsgebäude nicht das zu sehen, was es ist, sondern was es sein kann.“

Ein Punk-Bau in Zürich

Der erste Platz des Wettbewerbs, der seit 2011 vom Deutschen Architekturmuseum und dem Callwey-Verlag ausgelobt wird, geht an das Haus Alder im Zürcher Stadtteil Wipkingen. Der unkonventionelle Bau von Gabrielle Hächler und Andreas Fuhrimann bricht bewusst mit der Ästhetik des Makellosen. Aus den Fugen zwischen den Industrieziegeln quillt selbstbewusst der Mörtel. Und raue Schalungsspuren dienen dem beton brut als Ornament. 

Haus Alder, Hächler, Fuhrimann
Das Haus Alder gibt sich als urbane Trutzburg aus rauem Ziegel und Beton.

Stiegenaufgang, Haus Alder
Der Entwurf von Gabrielle Hächler und Andreas Fuhrimann bricht mit der Ästhetik des Makellosen.

Die Architekten des Büros AFGH haben sich mit dem Bau von Betonhäusern einen Namen gemacht. Ihr monolithischer Stadtbaustein in Zürich erinnert mit seiner rohen Fassade an die ewig unverputzten Wohnhäuser südlicher Landstriche. Hier, in der teuersten Stadt der Welt, ist das eine Art architektonischer Punk. Die Jury schwärmte: „Die Wucht des architektonischen Vortrages, seine Neuartigkeit und Kühnheit, ist schlicht begeisternd. Vor der Folie der Herausforderungen, vor die uns der Klimawandel stellt, ist es wichtig, unsere ästhetischen Positionen zu hinterfragen.“

Der Einhof reloaded

Eingebettet in ein Hochtal zwischen Radstadt und Schladming befindet sich das ebenfalls prämierte Haus Herzgsell vom Büro LP Architektur. Es zeigt, wie sich der schlichte, regionstypische Einhof zeitgemäß interpretieren lässt. Der schlichte Holzriegelbau bekommt durch eine perforierte Stampfbetonwand eine besondere strukturelle Membran. Diese vorgelagerte Belichtungsfuge sorgt für stimmungsvolle Lichtspiele im Inneren und einen kunstvollen Sichtschutz nach außen.

Herzgsell, LP Architektur
Das Haus Herzgsell zwischen Radstadt und Schladming ist eine Neuinterpretation des regionstypischen Einhofs.

Die aktuellen Hausbau-Trends 2021

Das Deutsche Architekturmuseum und der Callwey Verlag haben mittlerweile zum zehnten Mal die 50 besten Architekten-Häuser prämiert. Eine Expertenjury wählt unter den eingereichten Projekten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die jeweils besten aus. Präsentiert werden sie alljährlich in einem umfassenden Bildband.

Zu allen Bauprojekten in Häuser des Jahres 2021 – vom Stadtbaustein bis zum ländlichen Einhof – gibt es ausführliche Beschreibungen, Grundrisse, Gebäudedaten und hochwertiges Bildmaterial.

Der in diesem Jahr erstmals vergebene Preis für Architekturfotografie geht an den Vorarlberger Albrecht Imanuel Schnabel. Von ihm stammen die Aufnahmen von fünf der prämierten Häuser, darunter auch der Einhof Herzgsell.

Text: Gertraud Gerst
Fotos: Albrecht Imanuel Schnabel, Zooey Braun, Valentin Jeck, Callwey Verlag

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