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Sportliches Chalet am See

In Pointe-Claire wurde ein verfallenes Chalet in ein neues Wassersportzentrum mit öffentlichem Zugang zum See verwandelt. Die Folgen eines Schädlingsbefalls erlaubten den Architekten ein ästhetisches Upcycling.

Wenn ich den See seh‘, weiß eine entspannte Redewendung, dann brauch‘ ich kein Meer mehr. Und natürlich kommt so eine Feststellung nicht von irgendwoher: Das ruhige Wasser lädt nicht nur Augen und Gemüt zur seligen Rast, sondern – bei Bedarf – gerne auch zu jeder Menge sportlicher Aktivität. Wie etwa am Lac Saint-Louis im Südwesten der kanadischen Provinz Quebec, der sich speziell bei Seglern und Ruderern großer Beliebtheit erfreut.

Am See im Fluss

Am Nordufer des 148 Quadratkilometer großen Sees liegt, eine knappe Autostunde von der Metropole Montréal entfernt, die schmucke Kleinstadt Pointe-Claire. Deren Gründung geht auf französische Auswanderer zurück, die sich Anfang des 18. Jahrhunderts für einen Neustart auf der malerischen Île de Montréal entschieden hatten; zur eigenständigen Stadt wurde die ursprüngliche Kirchengemeinde 1854 erhoben.

Der Lac Saint-Louis, der sich aus dem Ottawa speist, wird seinerseits vom Sankt-Lorenz-Strom, einem der größten Flüsse Nordamerikas, durchflossen. In seiner Valois-Bucht in Pointe-Claire, deren Name auf eine der ersten Siedlerfamilien zurückgeht, liegt das 665 Quadratmeter große Chalet Baie-de-Valois, das im Vorjahr auf Ansinnen der Bevölkerung nach Plänen von ADHOC Architects und Prisme Architecture revitalisiert wurde.

Im Rhythmus des Waldes

Dieses neue Baie-de-Valois Nautical Center, das zuvor unter dem Namen Grande-Anse Chalet bekannt war, wurde einem rigorosen Umbau unterzogen und soll nun den jährlich rund 4.000 Besuchern des Grande-Anse-Parks diverse Annehmlichkeiten bieten. Dazu zählt neben einem Versammlungsraum für bis zu 100 Besucher und Lagermöglichkeiten für Sportutensilien im Kellergeschoß vor allem ein ungehinderter, barrierefreier Zugang zum Lac-Saint-Louis.

Gutes Design ist einprägsam, inspirierend, unterscheidbar, ästhetisch und funktional.

Jean-François „Jeff“ St-Onge

Großer Wert wurde bei der Revitalisierung des verfallenen Chalets auf die optische Einbindung des Gebäudes in die Landschaft gelegt. Deshalb präsentiert sich das nautische Zentrum neuerdings von der Umgebung des Geländes inspiriert: Das abgewinkelte Dach soll an eine Baumkrone erinnern, die Holzverkleidung der Decke (auf deren originelle Unregelmäßigkeit wir gleich noch zu sprechen kommen werden) verkörpert den Rhythmus angrenzender Waldgebiete und der Sockel folgt der Geometrie der felsigen Küstenlinie.

Inspirierend und funktional

Die Vision der in Montréal beheimateten ADHOC-Architekten besteht laut Selbstbeschreibung aus einer „Architektur, die über ihre eigenen Mauern hinaushallt.“ Dabei setzt das Team rund um Gründer Jean-François „Jeff“ St-Onge gerne auf „gutes Design“, das Erfahrung kultiviert und Innovationen voraussetzt: „Gutes Design ist einprägsam, inspirierend, unterscheidbar, ästhetisch und funktional. Gutes Design erzählt eine Geschichte, vermittelt eine Vision und drückt eine Idee aus.“

Design als „unvergleichlicher Kommunikationsträger“ ist für ADHOC außerdem ein „mächtiges Werkzeug, das Wünsche, Emotionen und Kreativität weckt.“ Und zwar sehr gerne im Dialog mit dem Kunden, aber auch mit gleichberechtigten Partnern – wie im Fall des Baie-de-Valois Nautical Centers mit Kollegen des auf der anderen Seite des Sankt-Lorenz-Stromes angesiedelten Architekturbüros Prisme. 

Individueller Rhythmus

Bei Prisme, wo man sich 2021 anlässlich der Übernahme durch die dritte Generation einen neuen Namen des 1957 gegründeten Unternehmens gönnte, dreht sich alles um „Nachhaltigkeit, Funktionalität, Effizienz und Nutzererfahrung“. Deshalb wurde als wesentliches Bauelement jenes Holz von lokalen Bäumen verwendet, die in jüngerer Vergangenheit einem Schädling mit dem schillernden Namen Asiatischer Eschenprachtkäfer zum Opfer gefallen waren.

Um die Verluste bei der Verarbeitung dieses Holzes so gering wie möglich zu halten, wurde aus dem Streben nach Effizienz ein optisches Highlight des Baie-de-Valois Nautical Center: Damit möglichst alle gefällten Stämme verwendet werden konnten, besteht die oben bereits angesprochene Holzverkleidung des Daches aus unterschiedlich breiten Brettern. Dieser individuelle Rhythmus wird durch die Integration von Lücken zwischen einzelnen Brettern noch verstärkt, wodurch die Konturen zusätzlich hervorgehoben werden.

Praktisch und schön

Diese Lücken zwischen den Eschenholzbrettern dienen aber auch einem praktischen Nutzen: Sie erlauben das Einsetzen linearer Beleuchtungskörper ebenso wie das geschickte Verstecken diverser mechanischer und akustischer Systeme hinter der Decke.

Die Außenverkleidung des Chalets wiederum besteht größtenteils aus dem Holz der Eastern White Cedar, die auf deutsch erstaunlicherweise „Abendländischer Lebensbaum“ heißt. Dieses Material wurde nicht nur wegen der gefälligen Optik gewählt, sondern auch wegen seines geringen Pflegebedarfs: Das Holz ist gebeizt, um schon jetzt ein verwittertes Aussehen zu imitieren; in Zukunft ist kein weiterer Anstrich notwendig, die silberne Patina des Zypressenholzes soll in im Lauf der Zeit von selbst die Oberhand gewinnen.

Zehn neue Bäume

Feierlich eröffnet wurde das nautische Zentrum am Lac Saint-Louis im Herbst 2021 natürlich vom Herrn Bürgermeister, John Belvedere. Der freute sich in seiner Ansprache nicht nur über das verbesserte und diversifizierte Angebot der Stadt an seine Wassersport-begeisterte Bevölkerung, sondern auch über das ausgeklügelte Auffangsystem für Regenwasser und die spezielle Betonmischung am Parkplatz, die sommerliche Hitzeinseln vermeiden soll.

Für die Gemeinde Pointe-Claire ist das Projekt ein sichtbares Zeichen im Kampf gegen den Klimawandel: Das verbaute Holz trägt nicht nur zur Ästhetik des öffentlichen Raums bei, sondern bindet und speichert Kohlenstoff – außerdem wurden auf dem Areal zehn neue Bäume gepflanzt. Sie sollen zusätzlichen Schatten spenden – und damit Plätze öffnen, von denen aus die Besucher einen atemberaubenden Blick auf die Schönheit des Sees genießen können. Wer braucht dann noch ans Meer zu fahren oder zu fliegen?

Text: Hannes Kropik
Fotos: Raphaël Thibodeau

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