Die Wohnmaschine 2.0
Der Entwurf für einen Wolkenkratzer in der albanischen Metropole Tirana ist laut Shigeru Ban Architects eine moderne Version der Unité d’Habitation, Corbusiers berühmter „Wohnmaschine“. Die aufgelöste Fassade sorgt dafür, dass das Hochhaus atmen kann.
Das Haus ist eine Maschine zum Wohnen“, postulierte Le Corbusier 1921 in der achten Ausgabe der noch jungen Avantgarde-Zeitschrift „L’Esprit Nouveau“. Ein Leitsatz, der zu seiner Zeit Kontroversen auslöste, obwohl dies großteils auf einem Missverständnis beruhte. Während Kritiker den Begriff „Wohnmaschine“ als Antithese zum „menschlichen Wohnen“ auslegten, forderte Le Corbusier dagegen, dass man an den Wohnungsbau mit derselben Effizienz herangehe wie ein Ingenieur, der ein Flugzeug baut. Ohne Raumverschwendung und mit der Absicht einer Produktion in Serie. Der breiten Masse sollte dieser Gebäudeentwurf, den er in vier französischen Städten und in Berlin umsetzte, einen erhöhten Wohnkomfort bieten. Bei dem entwickelten Hochhaustyp der „Unité d’Habitation“ stapelte er Maisonette-Wohnungen und öffentliche Infrastruktur so übereinander, dass es seinem Leitbild der vertikalen Stadt entsprach.
Eine Wohnmaschine nach heutigen Maßstäben
Diese Wohnmaschine von Le Corbusier lieferte nun Inspiration für ein Projekt von Shigeru Ban Architects in Albanien. In einer Projektbeschreibung zum Tirana Multifunctional Tower heißt es: „Der geplante Wolkenkratzer im Zentrum von Tirana ist eine moderne Version von Corbusiers Unité d’Habitation mit allen Funktionen wie Gewerbeflächen, Büroflächen und Wohnraum in einer einzigen vertikalen Stadt vereint, die auch die traditionellen albanischen Architekturtypologien übereinander abbildet.“
Der geplante Wolkenkratzer im Zentrum von Tirana ist eine moderne Version von Corbusiers Unité d’Habitation mit allen Funktionen wie Gewerbeflächen, Büroflächen und Wohnraum in einer einzigen vertikalen Stadt vereint.
Shigeru Ban Architects, Architekturbüro
Bei den traditionellen Typologien des Landes bezieht man sich auf ein vielschichtiges Stadtbild, das durch den Einfluss unterschiedlicher Kulturen entstanden ist. Bestes Beispiel dafür ist die mehr als 2.000 Jahre alte Stadt Berat, die etwa 70 Kilometer südlichen der Hauptstadt Tirana liegt. Sie trägt den Beinamen Stadt der Tausend Fenster und ist seit 2008 Teil des UNESCO-Welterbes. Die drei Altstadtquartiere bestehen aus einer ungewöhnlichen Mischung an unterschiedlichen Stilen und gelten als eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten des Landes.
Der kommunikative Zwischenraum
Der untere Teil des Tirana Multifunctional Tower zeigt eine aufgelöste Fassade, die keine klare Abgrenzung zwischen Innen und Außen aufweist. Ähnlich wie das Einkaufscenter Tehran Eye des iranischen Architekten Farshad Mehdizadeh sind Gehwege, Treppen, Grünanlagen und Gewerbeflächen zu einer vertikalen Raumeinheit verbunden, die das Architekturbüro „Zwischenraum“ nennt.
Ich glaube, dass der Zwischenraum für alle am komfortabelsten ist, unabhängig von Kultur oder Klima.
Shigeru Ban, Architekt und Pritzker-Preisträger
Räume zwischen drinnen und draußen zu kreieren war schon immer ein zentrales Element von Shigeru Bans Arbeit. Im Interview mit dem ubm magazin. erklärte der Pritzker-Preisträger: „Ich glaube, dass der Zwischenraum für alle am komfortabelsten ist, unabhängig von Kultur oder Klima.“
Die Parkanlage, in die das Hochhaus in Tirana eingebettet ist, zieht sich thematisch in diesen Zwischenraum fort, und schafft grüne Verweilzonen und kommunikative Terrassen, die durch die Bebauung darüber vom Wetter geschützt sind. Zusätzlich verbinden gläserne Treppenhäuser, die konstruktive Funktion haben, die einzelnen Ebenen miteinander.
Eine landschaftliche Collage
Auf den Ebenen darüber zeigt die Visualisierung eine wabenartige Struktur, die von einzelnen Holzkuben gebildet wird. „Die Stockwerke über den Geschäften werden wie in der Stadt Berat als Wohn- und Arbeitsräume genutzt. Kleinteilige Raumeinheiten sind versetzt übereinander gestapelt und bilden eine Art landschaftliche Collage“, heißt es dazu in der Projektbeschreibung.
In diesem Entwurf sind Innenhöfe und Übergangsbereiche zwischen dem Innen- und dem Außenraum im gesamten Gebäude integriert. Dies sorgt für eine natürliche Belüftung und schafft einen Hochhausturm, der atmen kann.
Shigeru Ban Architects, Architekturbüro
Ein Glaskubus über mehrere Stockwerke folgt im Anschluss an die Wohnwaben und bildet eine Grenze zur klassischen Skyscarper-Typologie, die darüber beginnt. Die geschlossene Fassade dieses rationalen Turms ist mit Photovoltaik-Paneelen verkleidet und sorgt für maximalen Sonnenstrom-Ertrag.
Ein Entwurf am Papier
Der Entwurf für die Wohnmaschine 2.0 stammt von 2022 und existiert nur am Papier. Ob er jemals umgesetzt wird, ist derzeit nicht bekannt. Die Essenz des Designs fasst das Architekturbüro wie folgt zusammen: „Normalerweise weisen Hochhaustürme eine geschlossene Vorhangfassade auf, aber in diesem Entwurf sind Innenhöfe und Übergangsbereiche zwischen dem Innen- und dem Außenraum im gesamten Gebäude integriert. Dies sorgt für eine natürliche Belüftung und schafft einen Hochhausturm, der atmen kann.“
In der belgischen Stadt Antwerpen entsteht gerade ein anderes Highrise-Projekt aus der Feder Shigeru Bans: das Wohn-Hochhaus BAN in Holz-Hybrid-Bauweise. Statt von Le Corbusier ließ Ban sich von der traditionellen japanischen Architektur inspirieren und kreierte einen Hochhaustyp, der den Zwischenraum zur Maxime erhebt.
Text: Gertraud Gerst
Visualisierungen: Shigeru Ban Architects