Flandern baut für die Unterbringung von Flüchtlingen eigene Dörfer mit modularen Wohneinheiten. Meist mit Bauten aus Holz. Und einer klar definierten Nachnutzung.

Container, Schiffe, Notunterkünfte, Massenquartiere, Hotels und ehemalige Bürogebäude sowie Privatwohnungen – auch in Belgien werden unterschiedliche Anstrengungen unternommen, um aus der Ukraine geflohene Menschen unterzubringen. Die staatliche Organisation Wonen in Vlaanderen (WIV) und die Wohnbaugesellschaft Cordium gehen einen anderen Weg. Sie errichten mit Hilfe von Partnern aus der Wirtschaft eigene, modulare Wohneinheiten und gruppieren diese zu kleinen Siedlungen mit dorfartigem Charakter.

Fluechtlingsdoerfer Flandern
Im Rahmen einer kleinen Feier wurde das „Notdorf“ in Hasselt an seine Bewohner aus der Ukraine übergeben.

Der Himmel meinte es nicht gut, als im Frühsommer 2023 in der belgischen Universitätsstadt Hasselt im Rahmen eines kleinen Festaktes zehn nagelneue Notunterkünfte an ihre künftigen Bewohner übergeben wurden. Es nieselte, die Temperaturen waren frisch und der noch nicht vollständig befestigte Untergrund verwandelte sich langsam in eine braune, matschige Masse. Dennoch war die Stimmung bei den anwesenden Menschen in der Hauptstadt der Provinz Limburg gut, beinahe fröhlich. Denn im Stadtteil Sint-Lambrechts-Herk der Hansestadt stehen jetzt zehn moderne Chalets, die bis auf weiteres rund 40 aus der Ukraine geflohenen Menschen ein sicheres Dach über dem Kopf bieten.

Chalets aus vorproduzierten Elementen

Die zehn nagelneuen chaletartigen Häuschen aus vorproduzierten Holzelementen sind der sichtbare Ausdruck für jenen Weg in der Unterbringung von Flüchtlingen, den die Verwaltung im flämischen Teil Belgiens eingeschlagen hat. Die Regierungsbehörden reagieren mit ihrem Wohnprogramm allerdings nicht auf einen aktuell anschwellenden Flüchtlingsstrom, sondern auf die Tatsache, dass sich die aus ihrer Heimat vertriebenen Menschen länger in Belgien aufhalten als ursprünglich angenommen. Viele Familien, die privat Flüchtlinge aufgenommen haben, sind beispielsweise davon ausgegangen, dass diese nur kurze Zeit bei ihnen wohnen würden.

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Die zehn Wohneinheiten in der Stadt Hasselt sind um einen kleinen „Dorfplatz“ gruppiert.

Klares Konzept für die spätere Nachnutzung

Auch die Nachnutzung der Wohneinheiten, wenn die ukrainischen Neo-Bewohner eines Tages wieder ausziehen, um in ihre Heimat zurückzukehren, ist bereits fix. Die behaglichen Holzkabinen, die an Tiny Houses erinnern, werden dann von der Wohnbaugesellschaft Cordium als Übergangswohnungen für jene Mieter genutzt, deren Wohnung zur Sanierung ansteht.

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Die kleine „Notsiedlung“ ist in die Stadtstruktur von Hasselt eingebunden.

Ähnliches Großprojekt in Gent

Aber auch im Stadtteil Oostakker von Gent haben noch vor dem Sommer 125 aus der Ukraine geflohene Menschen ihre neuen Dauerunterkünfte bezogen. In der ehemals eigenständigen Gemeinde, die schon vor längerer Zeit in die Hauptstadt der belgischen Provinz Ostflandern integriert wurde, entstanden bisher insgesamt 50 solcher Holz-Konstruktionen. Weitere 150 modulare Wohneinheiten sollen noch im Herbst 2023 hinzukommen. Und dann bis zu 600 geflohene Menschen aus der Ukraine beherbergen.

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Straßenzug in der sogenannten „Notsiedlung“ in der belgischen Stadt Gent.

Ähnliche Projekte gibt es in der Metropole Antwerpen, in der in der Provinz Antwerpen gelegenen Stadt Mechelen, den Kleinstädten Huldenberg und Vorselaar sowie diversen anderen Orten in Flandern. In Mechelen und Antwerpen handelt es sich allerdings um rasch errichtete Container-Siedlungen, die angesichts der ersten Flüchtlings-Welle aus der Ukraine bereits 2022 entstanden waren. Außerdem prüft die Verwaltung der Region, ob die bereits bestehenden Not- und Containersiedlungen zu dauerhaften Dörfern für Kriegsflüchtlinge ausgebaut werden können.

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Bau von mobilen Wohneinheiten in der Kleinstadt Vorselaar in der Provinz Antwerpen.

Alle Ukrainer:innen, die eines der Gebäude in Oostakker bezogen haben oder noch beziehen, leben bereits seit mehreren Monaten in und um Gent. Bisher waren sie bei Verwandten, in Aufnahmezentren oder bei gastfreundlichen Einwohner:innen der belgischen Stadt untergebracht. Nun soll ihnen das sogenannte „Notdorf“ auf Dauer ein Dach über dem Kopf bieten.

„Notdorf“ wird zum Studentenheim

Die modularen Wohneinheiten in Gent sollen später nicht nur als Übergangswohnungen genutzt werden, sondern werden zum Teil auch zu Studenten-Wohnungen umfunktioniert.

Um nachhaltigen und bezahlbaren Wohnraum zu ermöglichen, muss der Bauprozess für derartige Siedlungen möglichst stark standardisiert werden, eine intensive Zusammenarbeit zwischen dem Bauherrn und den Anbietern ist unerlässlich.

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Serienmäßige Vorproduktion von mobilen, modularen Wohneinheiten in den Werkshallen bei Jumatt.

Holz und Stahl als Basiselemente

Basis jedes Hauses ist entweder eine Holz- oder Stahlrahmenkonstruktion. Geplant und schließlich auch umgesetzt wurden diese unter der Federführung von ausgewiesenen Fachwerk-Spezialisten sowie Profis für modularen Wohnbau. Die Außenverkleidung besteht jeweils aus Thermoholz. Bei den Innenräumen wurde versucht, eine möglichst perfekte Kombination aus Raumgefühl, Komfort und Licht zu schaffen.

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Anlieferung einer neuen Wohneinheit von Steelframes für eines der „Notdörfer“.

Nachdem die schlüsselfertigen Wohneinheiten an ihrem nunmehrigen Standort angeliefert waren und dort mit Hydraulikkränen aufgestellt wurden, erfolgte auch das Finishing direkt an den Bauplätzen. Die Grundfläche beträgt zwischen 50 und 60 Quadratmeter.

Sowohl die Wohneinheiten in Gent als auch jene in Hasselt entsprechen dem flämischen Wohnungs-Kodex und sind komplett ausgestattet. Eine Einheit besteht aus einem Wohnzimmer, einer vollständig ausgestatteten Küche und einem eigenen Badezimmer sowie einem, zwei oder drei Schlafzimmern. Alle Räume sind vollständig möbliert sowie beispielsweise mit Vorhängen bestückt. Ziel ist es, den Bewohnern ein möglichst angenehmes und gesundes Wohnumfeld, vor allem aber Privatsphäre zu bieten.

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Mit Kränen werden die modularen Wohneinheiten exakt auf ihren Fundamenten platziert.

Veränderungen schafft man nicht allein, sondern mit starken Verbündeten.

Stijn Van Gorp, Corbiz

Leistbares Wohnen für alle

„Ein Zuhause für alle“ lautet das Motto von Wonen in Vlaanderen, der offiziellen Wohnagentur der Region. Anspruch sei es, allen Menschen in Flandern einen „hochwertigen, sicheren und bezahlbaren Wohnraum“ zur Verfügung zu stellen.

Neben Wonen in Vlaanderen zählen die gemeinnützige Wohnbaugesellschaft Cordium sowie das Unternehmen Corbiz zu den wichtigsten Partnern des Projekts. Wonen in Vlaanderen hat beispielsweise die Objekte erworben. Bei Cordium, das seit Juli 2023 unter dem Namen Wonen in Limburg auftritt, sind die klassischen Aufgaben einer Hausverwaltung angesiedelt.

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Die Küchen in den Wohneinheiten wurden vollständig mit Geräten und Möbeln ausgestattet.

Corbiz mit Sitz in Kessel (Nijlen) zeichnete unter anderem für die Aufstellung der modularen Wohn-Anlagen verantwortlich. Das erst 2021 gegründet Unternehmen agiert(e) während der Planung, des Baues und auch in der Nachbetreuung als Generalunternehmer und koordiniert die Aktivitäten zwischen den einzelnen Organisationen sowie den externen Dienstleistern und Produzenten.

„Unser Ziel ist es, nachhaltiges und bezahlbares Wohnen möglich zu machen. Dies erreichen wir durch die Zusammenarbeit mit einer Reihe sorgfältig ausgewählter Partner, die Erschwinglichkeit, Qualität und Kreislaufwirtschaft in den Vordergrund stellen. Wir übernehmen dabei die Rolle des Regisseurs“, erklären Leen Beke und Stijn Van Gorp von Corbiz.

Eingebunden sind beispielsweise Unternehmen wie Brensj in Dessel, ein Spezialist für Fertigteilhäuser aus Holzbauten. Brensj wiederum gehört zur belgischen Unternehmensgruppe Ecohuis in Herentals. Auch Jumatt aus der Bostoen-Gruppe mit Sitz in Andenne lieferte mobile Konstruktionen auf Holzbasis. Hingegen setzt SC Steelframes, in Houthalen-Helchteren angesiedelt, auf eine Stahlkonstruktion als Grundelement.

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Die Schlafzimmer sind eher spartanisch möbliert.

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Die Badezimmer bieten guten Standard.

Probelauf für ein neues Geschäftsfeld

Das Familienunternehmen Drisag nutzt die Arbeit für die Flüchtlings-Unterkünfte sogar, um einen neuen Geschäftszweig zu starten. „Durch diese Zusammenarbeit mit Corbis und Wonen in Vlaanderen erweitern wir unsere Kompetenz im Bereich Möbel für Büros, Schulen und öffentliche Räume auf Einrichtungen für temporäre Unterkünfte und Studentenheime“, sagt Niek Renders, Manager bei Drisag. Das Unternehmen aus Herentals, seit 50 Jahren ausschließlich auf die Entwicklung und Produktion von Büromöbeln spezialisiert, zeichnet für die Gestaltung der Innenräume verantwortlich.

Cordium verwaltet als gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft mehr als 1.500 Wohnhäuser in der Region und konzentriert sich dabei auf die Bedürfnisse von Menschen mit begrenzten Mitteln. Außerdem setzt das Unternehmen verstärkt auf zukunftsorientierte Technik und Bauweisen.

Der soziale Wohnungssektor in Flandern gilt seit den frühen 1980er-Jahren generell als Vorreiter beim Einsatz und der Entwicklung energieeffizienter Technologien beziehungsweise der Nutzung erneuerbarer Energiequellen.

Text: Albert Sachs
Fotos: Cordium
Fotos: Corbiz
Fotos: Drisag
Fotos: Brensj
Fotos: Jumatt
Fotos: SC Steelframes

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