Die Vogelbeobachtungsstation Tij im niederländischen Schilfgürtel ist ein Paradebeispiel für das zirkuläre Bauen im Einklang mit der Natur. Die eiförmige Holzkonstruktion basiert auf der Zollinger-Bauweise, das Schilf seiner Hülle stammt aus direkter Umgebung.

Als der Haringvliet an der niederländischen Küste noch eine Meeresbucht war, erntete man hier das am Ufer wachsende Schilfrohr für die regional typischen Reetdächer. Nach seiner Abdämmung entstand ein Binnengewässer, dessen Schilfgürtel wieder zum Brutgebiet zahlreicher Vogelarten wurde. Schilfrohrsänger und Rohrammern treffen hier auf Seeschwalben, Möwen & Co. Das Naturschutzgebiet Scheelhoek ist zur erklärten Traumdestination für Naturliebhaber, Ornithologen und Fotografen geworden. Den besten Blick auf die artenreiche Fauna genießt man in der Vogelskieke Tij, dem Vogelobservatorium am südlichen Ufer des Haringvliet.

Vogelobservatorium Tij, Scheelhoek, Niderlande, RAU, Ro&AD
Das Vogelobservatorium Tij im niederländischen Naturschutzgebiet Scheelhoek besteht aus einer Holzkonstruktion und einer Hülle aus Reet.

Bestens getarnt

Ein riesiges, in Reet gehülltes Ei liegt auf der Sandbank, umgeben von einem geflochtenen Holzzaun, der in diesem Kontext an ein Nest erinnert. Die dichte Hülle ist von mandelförmigen Öffnungsschlitzen durchbrochen, die an Augen erinnern und damit in ihrer Form die Funktion widerspiegeln: Durch diese Schlitze lässt sich die Vogelwelt ungestört beobachten. 

Wir haben ein (Öko-)System geschaffen, in dem Mensch und Natur näher zusammenrücken und Teil der Welt des anderen sein können.

RAU, Architekturbüro

Die markante Form ist dem Ei der Brandseeschwalbe nachempfunden, eines in dieser Gegend heimischen Vogels. Das Schilf für die Hülle stammt aus der unmittelbaren Umgebung und bildet so etwas wie einen natürlichen Tarnanzug. „Wir haben ein (Öko-)System geschaffen, in dem Mensch und Natur näher zusammenrücken und Teil der Welt des anderen sein können“, erklärt das Architekturbüro RAU, das gemeinsam mit Ro&Ad Architects für das Konzept verantwortlich zeichnet.

Außenhülle, Vogelobservatorium Tij, Scheelhoek, Niderlande, RAU, Ro&AD
Das Observatorium erinnert an ein riesiges, in Reet gehülltes Ei, der geflochtene Holzzaun an das dazugehörige Nest.

Bauen im Einklang mit der Natur

Am vorderen und am hinteren Ende des Baukörpers hebt sich die Reethülle in einem Schwung und gibt die netzförmige Holzkonstruktion preis, die diese organische Form möglich macht. Sie basiert auf dem Zollingerdach, einer Ein-Komponenten-Bauweise, die derzeit ein Revival erlebt.

Bei der Systembauweise, die auf den Merseburger Stadtbaumeister Friedrich Zollinger zurückgeht, werden gleichartige Einzelteile zu einem Stabnetztragwerk zusammengesetzt. Die selbsttragende Konstruktion besteht aus 402 Bauteilen aus Kiefernholz, die sich einfach auf dem Wasserweg transportieren und in relativ kurzer Zeit aufbauen ließen.

Die Herausforderung, das Bauwerk in einem Naturschutzgebiet zu errichten, bestimmte alle Entscheidungen des Designprozesses.

RAU, Architekturbüro

Aerial, Vogelobservatorium Tij, Scheelhoek, Niderlande, RAU, Ro&AD
Vogelobservatorium Tij, Scheelhoek, Niderlande, RAU, Ro&AD
Der letzte Teil des Zugangs verläuft unterirdisch, damit Besucher das Observatorium unbemerkt betreten können.

Ein großer Vorteil, wenn es darum geht, möglichst schnell und im Einklang mit der Natur zu bauen. „Die Herausforderung, das Bauwerk in einem Naturschutzgebiet zu errichten, bestimmte alle Entscheidungen des Designprozesses“, heißt es in der Projektbeschreibung. „Alle Bauelemente wurden vorgefertigt, um die Natur möglichst wenig zu beeinträchtigen.“

Vogel- und Naturbeobachter können das Observatorium unbemerkt betreten. Der Zugang führt über einen unterirdischen Gang, der in den Sand eingegraben wurde.

Zurück zu Ebbe und Flut

Im Inneren der Beobachtungsstation liegt eine Holzplattform auf einem Fundament aus groben Steinen. Von hier führt eine Treppe hinauf zur ringförmigen Galerie und den Ausgucken durch die Reetfassade in alle Himmelsrichtungen. Ein ovales Oberlicht ist durch senkrechte Reetbündel eingefasst und sorgt im Inneren für gute Lichtverhältnisse. 

Augen, Vogelobservatorium Tij, Scheelhoek, Niderlande, RAU, Ro&AD
Die geschwungenen Öffnungen in der Reethülle erinnern an Augenlider und geben den Blick für Ornithologen und Naturliebhaber frei.

Das für die Außenhülle verwendete Schilfrohr stammt aus dem umliegenden Naturschutzgebiet Scheelhoek, das im Zuge eines Renaturierungsprojektes zu einem Brackwasserbiotop werden soll. Der Dammbau in den 1970er-Jahren hat das bestehende Ökosystem gestört, das von Ebbe und Flut geprägt war. Spaltbreite Durchbrüche im Damm sorgen heute dafür, dass die großen Schilfgebiete wieder dem rhythmischen Oszillieren des Meeres ausgesetzt sind.

Holzschutz durch Acetylierung

Das bedeutet, dass auch die Beobachtungsstation in regelmäßigen Intervallen überflutet wird. „Das Observatorium ist dann für Menschen nicht zugänglich, was es zu einem einzigartigen, naturnahen Erlebnis macht“, so die Architekten von RAU. Einen Hinweis darauf und zugleich ein Wortspiel liefert der Name Tij. Zum einen ist es das niederländische Wort für Gezeiten, schnell ausgesprochen bedeutet es aber auch ‚das Ei‘.

Innenraum, Vogelobservatorium Tij, Scheelhoek, Niderlande, RAU, Ro&AD
Die eiförmige Holzkonstruktion basiert auf der Zollinger-Bauweise.

Oberlicht, Vogelobservatorium Tij, Scheelhoek, Niderlande, RAU, Ro&AD
Für Tageslicht im Observatorium sorgt ein ovales Oberlicht.

Damit das Holz dem regelmäßigen Kontakt mit Wasser besser standhält, besteht der untere Teil der Konstruktion aus acetyliertem Holz. Die Behandlung mit Essigsäure ist nicht toxisch und erschwert die Besiedlung durch Pilze und Insekten. Die Reetfassade endet knapp über der Flutgrenze und kommt mit dem Wasser nicht in Berührung.

Das Öffnen der Schleusen im Jahr 2018 wurde mit einer Reihe an Beobachtungsstationen im Naturschutzgebiet gefeiert, das Ei aus Holz und Reet bildet den architektonischen Höhepunkt. Es besteht fast zur Gänze aus biobasierten Materialien, ist komplett rückbaubar und fügt sich durch seine organische Form und Materialität nahtlos in die umgebende Landschaft ein.

Text: Gertraud Gerst
Fotos: Katja Effting, Merijn Koelink

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