Für die einen sind es Betonmonster, für die anderen Kult. Die Liebhaber des Brutalismus werden immer mehr und leben ihre Zement-Neurose mit Vorliebe im Internet aus. 

Sichtbeton, geometrische Formen und skulpturale Erscheinung sind die Hauptmerkmale des Brutalismus. Der Architekturstil der Moderne verbreitete sich ab den 1950er Jahren auf allen Kontinenten und behielt bis in die 1980er Jahre seine Aktualität. Seine Vertreter stützten sich ideologisch auf einen Realismus, der kraftvoll, brachial und ehrlich sein sollte. Aus dem bevorzugten Werkstoff béton brut (roher Beton) entstanden die unterschiedlichsten Bauten – von der Kirche bis zum Sanatorium. 

Die Wohnmaschine von Le Corbusier

Einer der wichtigsten Vertreter dieser Stilrichtung war der Architekt und Bildhauer Le Corbusier. Mit der Unité d’Habitation entwickelte er einen Wohnhaustyp, der als brutalistischer Prototyp in Serie gehen sollte. Durch die wirtschaftliche Effizienz wollte der Visionär den Wohnkomfort demokratisieren und einer breiten Masse zugänglich machen. Sein Leitbild war die  vertikale Stadt, die Wohnraum und Infrastruktur übereinander stapelte. Dabei musste der Bau die Umgebung nicht miteinbeziehen, er konnte an jedem beliebigen Ort umgesetzt werden. Mit diesem Entwurf der Wohnmaschine, der bis heute umstritten ist, lieferte er den Vorläufer der Plattenbauten. Seit 2016 gehören 17 seiner Bauten zum UNESCO-Welterbe.

In den 1990er Jahren fand eine Trendwende statt und Architekten empfanden die Bauten großteils als Bausünden und ästhetischen Vandalismus. Hinzu kam, dass der Beton nach all den Jahren erodiert, verschmutzt und vermoost war.

Erst in den letzten Jahren, als zahlreiche Bauten vor dem Abriss standen, erfuhr der Brutalismus ein neues Revival. Plötzlich sind sie wieder in, die Betonklötze der Nachkriegszeit und werden in sozialen Medien, Ausstellungen und zahlreichen neuen Publikationen gefeiert. Bei all dem Hype geht es nicht allein um die kultige, brachiale Ästhetik des Baustils. Für viele wecken die abgetakelten Bunker nostalgische Erinnerungen an eine Zeit, als der ideologische Entwurf vom sozialen Miteinander in Beton gegossen wurde. Doch genauso wie sie von den einen heiß geliebt werden, sagen andere voller Überzeugung: Das kann weg!

das Schriftsteller-Haus am Sevan See in Armenien
Sovjet-Stil vom Feinsten: das Schriftsteller-Haus am Sevan See in Armenien

Rettet die Betonmonster!

Die Online-Initiative #SOSBrutalism hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Betonmonster zu retten. In einer ständig wachsenden Datenbank werden die Bauten dokumentiert und Kampagnen gestartet, die vor dem drohenden Abriss bewahren sollen. Gemeinsam mit dem Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt wurde eine große Ausstellung angestoßen. Das Architekturzentrum Wien zeigte in diesem Rahmen die Highlights des österreichischen Brutalismus. Ein Fixstern für Fans des Baustils ist die Wotrubakirche am Georgenberg in Wien. Sie wurde von August 1974 bis Oktober 1976 nach Entwürfen des Bildhauers Fritz Wotruba und Plänen des Architekten Fritz Gerhard Mayr erbaut.

Der Brutalismus lebt!

Dass der Brutalismus kein musealer Stil längst vergangener Zeiten ist, beweisen zahlreiche zeitgenössische Architekten. Sie setzen auf Sichtbeton als Stilelement, das sie gerne in Kombination mit Holz und anderen natürlichen Baustoffen kombinieren. Das argentinische Architekten-Duo Besonias Almeida setzt bei seinen Wohnhäusern und Hideaways im Grünen genau auf diese Kombination. Wie das folgende Instagram-Post beweist: Verspieltes Dekor hat in ihren minimalistischen Refugien keine Chance. 

Text: Gertraud Gerst
Fotos: Getty Images

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