Der aktuelle Tiny House-Hype kommt aus Amerika. Die Wiener Werkbundsiedlung nahm den Trend schon in den 1930er Jahren vorweg. Jetzt ist die Mustersiedlung der Moderne generalsaniert.

Pünktlich zum hundertjährigen Jubiläum des Roten Wien erstrahlt die Wiener Werkbundsiedlung in neuem Glanz. Im Frühjahr 2019 konnte nach acht Jahren die Generalsanierung abgeschlossen werden. Als letztes Objekt bekam das Haus Woinovichgasse 15 ein ganzheitliches Make-Over. Das von Adolf Loos und Heinrich Kulka entworfene Doppelhaus gilt als Architektur-Juwel der Wiener Moderne. Es wurde in allen historischen Ausstattungsdetails fachgerecht konserviert und restauriert – von den gelben Linoleumböden bis hin zu den verwendeten Beschlägen. 

Die Werkbundsiedlung wurde 1932 als kommunale Mustersiedlung eröffnet und sollte dem Superblock des Roten Wien etwas entgegenstellen. Entworfen wurde sie von den Vertretern der Siedlerbewegung, die in den frühen 1920er Jahren entstand. 

Als Selbstversorger gegen die Hungersnot

Die Heimkehrer des Ersten Weltkrieges nahmen in der großen Hungers- und Wohnungsnot ihr Schicksal selbst in die Hand. Sie begannen, den Rand des Wienerwaldes wild zu besiedeln. Sie bauten in Eigenregie einfache Behausungen, holten sich Brennholz aus dem Wald und hielten sich als Selbstversorger mit Nutzgärten über Wasser. Nach den ersten illegal errichteten Häusern und drei Massendemonstrationen unterstützte die Stadt Wien schließlich das Vorhaben. 1921 gründete sie die Gemeinwirtschaftliche Siedlungs- und Baustoffanstalt (Gesiba) und lieferte die Baustoffe. Die Siedler leisteten weiterhin die Bauarbeiten. Auf diese Weise entstanden bis 1925 an die 3000 Häuser.

Das architektonische Konzept zur Gartenstadtbewegung lieferte der Wiener Werkbund mit Josef Frank als wichtigsten Vertreter. Der Visionär engagierte sich für den sozialen Wohnbau und kritisierte die Wohnbauphilosophie des Roten Wien. Das „Bienenwabensystem“ der Monumentalbauten, die er ironisch Volkswohnpaläste nannte, lehnte er ab. 

Architektur Wien, 1932, Werkbundsiedlung, Josef Frank
Das Haus 12 in der Woinovichgasse 32 wurde von Josef Frank geplant und eingerichtet.

Downsizing: kein neuer Trend

Seinen Gegenentwurf zeigte Frank schließlich mit seiner Musterhaussiedlung der Moderne – der Wiener Werkbundsiedlung. Als Projektleiter lud er namhafte Architekten ein, zu zeigen, was gestalterisch alles möglich war – trotz enger Raumverhältnisse und beschränkter finanzieller Mittel. Adolf Loos, Margarethe Schütte-Lihotzky, Gerrit Rietveld und Josef Hoffmann waren unter den mitwirkenden Architekten. Sie setzten jeweils ihre eigene Vorstellung vom leistbaren Kleinhaus um. Die 70 vollständig eingerichteten Häuser, die entstanden, wurden bei der „größten Bauaustellung Europas“ von 100.000 Menschen besucht.

„Wirtschaftlichkeit auf kleinstem Raum“ lautete die Devise, die von den Architekten auf unterschiedliche Weise umgesetzt wurde. Verglichen mit den heute üblichen Raum- und Wohnungsgrößen sind die Häuser tatsächlich klein dimensioniert. Durch die hohe Funktionalität, effektive Raumaufteilung und geschickt gesetzte Ausblicke entsteht dennoch der Eindruck von Geräumigkeit. Daneben setzten Werkbund-Architekten wie André Lurçat auf die Verwendung von Einbau- und Klappmöbeln. Dadurch ergab sich jeweils eine Tages- und eine Nachmöblierung. Diese Überlegungen zur Rationalisierung des Wohnraumes waren seit Beginn der 1920er Jahre Inhalt zahlreicher Kongresse, Publikationen und Ausstellungen. Damit nahm die frühe Moderne den aktuellen Downsizing-Trend und Tiny House-Hype voraus.

Architektur Wien, 1932, Werkbundsiedlung, André Lurçat
Die von André Lurçat errichteten Reihenhäuser 25-28 zählen mit ihren abgerundeten Stiegenhäusern zu den markantesten Bauten der Wiener Werkbundsiedlung.

werkbundsiedlung wien
Virtuelles Museum

Bei einem Besuch der Werkbundsiedlung Wien bietet ein Audio-Guide umfangreiche Informationen zu den Highlights der 70 Häuser von 1932. Der Audio-Guide kann als APP herunterladen werden.

Nur 14 Häuser verkauft

Zwar ist die Werkbundsiedlung eines der bedeutendsten Dokumente der architektonischen Moderne in Österreich, als kommunales Wohnbauprojekt war es allerdings zum Scheitern verurteilt. Nur 14 Häuser ließen sich aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage wie geplant verkaufen. Die anderen wurden vermietet und gelangten in der NS-Zeit ins Eigentum der Wiener Stadtverwaltung.

Genauso wie mit seiner Vision vom neuen Wohnen war Josef Frank zuvor bei der Arbeiterschicht auch mit seinen Möbelentwürfen abgeblitzt. Über die Beratungsstelle für Inneneinrichtung und Wohnungshygiene, die sich im Karl-Marx-Hof befand, hatte Frank eigene Möbel entworfen. Bei den Arbeitern fand die moderne Ästhetik nur wenig Anklang. Sie orientierten sich damals lieber am bürgerlichen Geschmack und stellten sich schwere, dunkle Holzmöbel in ihre neuen Apartments. Nach seiner Emigration nach Schweden im Jahr 1933 wurde Frank schließlich zu einem der renommiertesten Möbeldesigner und wichtigsten Wegbereiter des Skandinavischen Designs.  

Text: Gertraud Gerst
Fotos: Architekturzentrum Wien, Sammlung, Margherita Spiluttini

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