Zwei auf einen Geniestreich
#architektur

Zwei auf einen (Genie)streich

Ende der „Goldenen 20er Jahre“ beweisen zwei ebenso betuchte wie kunstsinnige Krefelder Seidenfabrikanten großen Weitblick. Sie gewinnen den Architekten Ludwig Mies van der Rohe für den Bau ihrer benachbarten Villen: Haus Lange und Haus Esters.

Die Bubi-Kopf-Frisur ist 1927 noch modern, Charles Lindbergh überquert den Atlantik im Alleinflug, Fritz Langs Film Metropolis erobert die Kinos und das Bauhaus gewinnt sichtbar mehr an Einfluss – auch auf die Architektur. In diesem Jahr erstellt Mies van der Rohe die ersten Entwürfe für Haus Lange und Haus Esters. Sein Plan sieht einen offenen Grundriss und großzügige Glaswände vor, um die Rückseiten beider Gebäude mit dem stattlichen Grundstück zu vereinen. All das ist radikal neu gedacht, neu gezeichnet und seinerzeit noch „ungesehen“.  

Haus Lange, von der Straße aus gesehen
Reinstes Bauhaus und hohe Kunst: Haus Lange, von der Straße aus gesehen
Haus Esters, vom Garten aus betrachtet
Offen für Licht und Natur: Haus Esters, vom Garten aus betrachtet

Sehr tragfähiger Kompromiss

Die Vorstellungen Mies van der Rohes wirken selbst in dieser experimentierfreudigen Zeit visionär – und sehr fordernd. Die Erwartungen und die alltäglichen Anforderungen der beiden großbürgerlichen Industriellen-Familien spiegeln seine Ideen anfangs nicht wider. Im intensiven Dialog Mies van der Rohes mit den beiden Bauherren entstehen dann Entwürfe, die sowohl dem hohen Anspruch des Architekten als auch den individuellen Wünschen seiner Auftraggeber gerecht werden. Für Furore sorgen die beiden Gebäude ohnehin. Sie gelten als Perlen des Bauhauses, werden später auch als Tempel der Kunst genutzt. Schon 1955 öffnet Haus Lange seine schwere Palisandertür der Öffentlichkeit. Von 1981 kommt auch Haus Esters als Ausstellungsraum hinzu. 

Eine fruchtbare Kooperation

Diesen doppelten Kultur- und Kunstschatz verdankt Krefeld der Initiative und dem Spürsinn von Hermann Lange (1874-1942). Er ist Gründer der Vereinigten Seidenwebereien AG (VerseidAG), engagierter Kunstsammler und Mitglied im Deutschen Werkbund. In dieser wirtschaftskulturellen Vereinigung von Künstlern, Architekten, Unternehmern und Sachverständigen lernt er den bereits gefragten und gefeierten Mies van der Rohe kennen und engagiert ihn für sein Vorhaben. Auch den befreundeten VerseidAG-Direktor Josef Esters begeistert er rasch für das gemeinsame Projekt. Die zwischen 1927 und 1930 auf einem parkähnlichen Grundstück erbauten Wohnhäuser werden zu Ikonen des Neuen Bauens.

Mies van der Rohe
Bau und Umgebung im Blick: Mies van der Rohe bei der Arbeit an Haus Esters

Weniger bekannt ist, dass Mies van der Rohe über einige Jahre hinweg auch intensiv für die VerseidAG tätig ist. Mit seiner Partnerin, der Designerin Lilly Reich (1885 – 1947) entwirft er die Messestände „Samt & Seide“ (Berlin 1927) und „Deutsche Seide“ (Barcelona 1929). 1930/1931 entstehen mit den Färberei- und Herrenfutterstoffe-Gebäuden der VerseidAG die einzigen, bis heute existierenden Fabrikgebäude Mies van der Rohes.

Moderner Stahl, klassischer Backstein

Die Konstruktion beider Villen basiert auf einem Stahlträgergerüst. Es erlaubt, Wände relativ frei zu setzen und große Fensteröffnungen zu schaffen. Die Backsteinhaut selbst übernimmt keine tragende Funktion. So entstehen einzelne kubische Baueinheiten, die ineinander übergreifen und den für Mies van der Rohe typischen offenen Grundriss andeuten. Zum Garten hin wirken beide Gebäude groß, luftig und offen, von der entlegenen Straße aus relativ kompakt und geschlossen. Haus Lange und Haus Esters bilden nach außen hin ein harmonisches, hochmodernes Ensemble. Manche Räume, wie eine Halle als gesellschaftlicher „Salon“, erinnern jedoch noch an die Gewohnheiten des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sehr unkonventionell und funktional mutet wiederum der Personaleingang von Haus Lange an. Er ist unmittelbar neben dem Haupteingang positioniert.

Haus Lange
„Schwebende“ und offene Räume: dank der Konstruktion aus Stahl und Backstein

Viel Liebe zum Detail

Beide Häuser werden 1930 fertig gestellt. Dabei zeichnet Ludwig Mies van der Rohe nicht nur für die Architektur verantwortlich. Mit Lilly Reich entwirft und realisiert er auch zahlreiche Details im Inneren. Das reicht vom Türgriff über Deckenleuchten, Heizkörperverkleidungen und Regalvitrinen bis hin zu der ausgeklügelten Fenstertechnik. Für die gekonnte Präsentation von Kunst in den privaten Räumen entwickeln Mies van der Rohe und Lilly Reich ein System aus umlaufenden Stangen und Hängeleisten sowie Sockeln aus Travertin.

Haus Lange und Haus Esters
Konsequent durchgestaltet: Interior-Design von Mies van der Rohe und Lilly Reich

Der Dialog von Innen und Außen

Stahlträger ermöglichen den Einbau großer Fenster, die zum Teil versenkbar sind und den Außenbereich mit einbeziehen. Beim Haus Lange sind die mit Stahlrahmen versehenen Scheiben an Ketten aufgehängt und können sowohl per Hand als auch durch Elektromotoren in den Keller verschoben werden. Das eröffnet einen unverstellten Blick auf die umgebende Natur. Beide Gärten mit ihren unterschiedlichen Baum- und Pflanzenbeständen werden von Mies van der Rohe auch gleich mit gestaltet.

Haus Lange, Gartentür
Jedes Detail ein Unikat: die Tür von Haus Lange zur Gartenterrasse hin

Als Museen rasch gealtert

Für viele spektakuläre Ausstellungen zeitgenössischer Kunst schaffen die beiden Baupreziosen von 1955 und 1981 an einen mehr als adäquaten Rahmen. Schließlich sind sie selbst schon wertvolle Exponate. Doch fällige Reparaturen werden aus Budgetgründen lange aufgeschoben, die Bausubstanz erodiert. Sogar ein Abriss wird erwogen. Glücklicherweise setzt sich der Krefelder Architekt Klaus Reymann entschieden für die Bauten ein. Reymann studiert die Baupläne, analysiert Materialproben und betreut schließlich von 1998 bis 2000 die erste von Stadt und Land bewilligte, umfassende Restaurierung. Damit erweist er seinem bahnbrechenden Kollegen und seiner Heimatstadt einen ebenso großen wie selbstlosen Dienst. Klaus Reymann begleitet die zweijährigen Arbeiten akribisch – und ohne Honorar.

Der Final Touch

2011 werden sogar die jahrzehnlang blockierten Hebefenster im Haus Lange wieder in Betrieb genommen. Zweimal im Jahr, anlässlich der Veranstaltungsreihe „Mehr Mies“, kündigt nun ein leises Surren genau jenes Erlebnis an, dass dem Architekten so sehr am Herzen lag: die Verschmelzung von Innenraum und Außenwelt.

Text: Tobias Sckaer; Bilder: Volker Döhne / VG Bildkunst, Bonn 2019

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